Artikel 03.10.2019

Von der Kunst des Weglassens: Nillson beim Reeperbahn Festival 2019

Vier wunderbare Tage voller Musik und wundgelaufener Füße: Das war das Reeperbahn Festival 2019. Die Überreizung als Chance, ein ganzer Berg neuer Eindrücke und schöner Erlebnisse, famose Gespräche und alte Freunde, all das wiegt den Druck auf, gefühlt an 30 Orten gleichzeitig sein müssen zu wollen. Das funktioniert nirgends besser als hier.

Dabei muss einem wie in jedem Jahr klar sein, dass das Verpassen einen weit größeren Part einnimmt als das tatsächliche Erleben. Hat man sich damit aber arrangiert - und wer nicht zum ersten Mal auf Hamburgs Reeperbahn an Europas größtem Showcase-Festival teilnimmt, hat früh gelernt, eben das zu tun - ist das tatsächlich Stattgefundene umso wertvoller, weil es aus der Intuition heraus geschehen ist und man im Nichteinhalten von Plänen die eigentliche Freiheit dieses Wochenendes entdeckt hat. Schon in der Schlange beim Check-in auf dem Heiligengeistfeld gehen einem die ersten Künstler durch die Lappen, die sich auf dem Spielbudenplatz am N-Joy-Reeperbus in kurzen, akustisch gehaltenen Slots dem Publikum präsentieren, ihren guten Ruf durch kleine Appetizer rechtfertigen oder darauf hoffen, Interessierte für das Abendkonzert zu gewinnen. Für nicht wenige ist das Reeperbahn Festival ein Sprungbrett; für uns Zuschauer bietet das die Möglichkeit, bei einem Kickoff der besonderen Art dabei zu sein um in ein, zwei Jahren in der abendlichen Musikhörrunde mit guten Freunden sagen zu können: Ich war damals schon dabei.

All die Menschen mit Namensanhängern um den Hals sind die Multiplikatoren dieses Sprungbretts, das so viel bedeuten kann; sie alle entscheiden über Gedeih und Verderb, zumindest fühlt sich das so an. Geht der Daumen hoch, gibt es vielleicht eine Chance auf Plattendeals bei den renommierten Indie-Labels oder einen Platz im Booking-Roster von Agentur XY. Senkt er sich, ist die Möglichkeit gegeben, dass dieses Land all diese Bands und Künstler nie mehr wieder sieht. Das hat zweifelsohne, betrachtet man es negativ, etwas von einem Viehmarkt, bei dem es um die Berechnung von Optionen geht. Es kann aber auch ein wunderbarer Startschuss sein. Hinzu kommen Präsentationen von Labels, die sich ihrer Sache bereits sehr sicher sind und einen Einblick in ihr Schaffen und ihr Aufgebot geben mögen - eine Art Status-Darbietung: Hier stehen wir zu diesem Zeitpunkt. Lernt uns kennen! Und nicht zuletzt bietet das Reeperbahn Festival auch eine so große Fülle von Clubkonzerten mit bereits arrivierten Helden, die man lange nicht gesehen hat, denen man endlich einmal näher auf den Zahn fühlen darf oder deren Konzert zum guten Ton gehört, wenn man sich mit Musik auszukennen behauptet.

Zwischen all den Receptions, Free Drinks und Networking Events, Panels und Awards bleibt zum Glück aber immer wieder auch Zeit für Zwischenmenschliches. Das ist es, was das Reeperbahn Festival trotz dieser zum Teil unmenschlichen Überreizung so besonders und wunderbar macht. Wie schnell steht man neben einer Person, mit der man als Mensch der Musikszene schon einmal per Mail kommuniziert hat, und freut sich, zum geschriebenen Wort endlich auch ein Gesicht zu haben. Wie spannend ist es, neue Kontakte zu knüpfen, sich auszutauschen und sich zu freuen, wieder ein paar mehr Leute zu kennen, die wie man selbst auf der guten Seite stehen. Von einem Wiedersehen mit guten Typinnen und Typen, die man mindestens nur hier trifft, ganz zu schweigen. Das gute Gefühl, als Mensch, der gern gehabt wird, nicht vergessen worden zu sein, auch wenn man aus verschiedentlichen Gründen sein Medium nicht so gut pflegt wie in alten Tagen, ist Gold wert. Nicht allem lässt sich so gerecht werden, wie man es gern hätte. Wer aber die vier Tage auf der Reeperbahn ungenutzt lässt, ob nun in privater oder beruflicher Hinsicht oder im freudvollen Mix aus beidem, der macht etwas falsch.

Fakt ist: Man muss entscheidungsfreudig sein. Dazu gehört nicht nur, sich beim fett auf dem Plan vermerkten Konzert auch mal mit langen Schlangen vor der Tür zu arrangieren, sondern auch, weglassen zu können, wenn klar ist, dass ein spezielles Event einem zu viele andere Türen verschließt. So gerne ich würde, die Konzerte in der Elbphilharmonie im Rahmen des Reeperbahn Festivals werde ich wohl immer verpassen müssen. Was in diesem Jahr sicherlich mindestens für die Performance der Dänen von Efterklang überaus schade ist. Aber all die guten Schnacks und kurzen Peeks auf Künstler, von denen ich noch nie etwas gehört habe, für ein (inklusive An- und Abreise per U3) zweistündiges Mega-Event zu opfern, kommt mir leider noch nicht wie eine gute Alternative vor. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Konzerten im Michel. Geh ich hin und komm nicht rein, was mach ich dann? Diese Gemengelage hat mich im vergangenen Jahr sogar dazu gebracht, freiwillig ein Kirchenkonzert meiner geliebten Get Well Soon zu verpassen.

Und all die anderen „wichtigen“ Konzerte, die ich gesehen haben müsste - Feist im Rahmen der Open Doors Show im Stage Operettenhaus, die Sleaford Mods im Docks, um nur zwei zu nennen - scheiterten bei mir an den zu guten Alternativen. Mal war das schade, mal hinnehmbar. Und jedes Mal, wenn die App auf meinem Smartphone aufploppte und herausschrie: Einlassstopp hier! Einlassstopp dort! war ich mir sicher, mich richtig zu entschieden haben, weil ich mich in aller Regel gerade an einem Ort irgendwo auf Hamburgs großer Amüsiermeile und umzu befand, an dem es sich für mich gerade gut anfühlte. Dass die Foals verletzungsbedingt kurzfristig absagen mussten, hatte bei allem Mitgefühl für die Band sogar etwas zeitplantechnisch erleichterndes - dass Warner Music dann als Alternative ausgerechnet den durch seine Texte homophob und frauenfeindlich auftretenden Rapper Bausa aus dem Hut zauberte, geriet sogar zwischenzeitlich zum Politikum. Wie konnte ein Festival, das sich als großer Unterstützer der Keychange-Bewegung, die dafür sorgt, dass Frauen in ihrer Kunst eine breitere Bühne geschaffen wird und sich stark gegen Diskriminierung und Misogynie macht, mit jemandem einlassen, der diese antiquierten Haltungen, scheingerechtfertigt mit erschreckend hohem Charts-Airplay, nach wie vor für salonfähig hält? Das sorgte für Kopfschütteln allenthalben und freute wohl nur die in weiten Teilen unreflektiert feierfreudige Masse an Teenies und die Unverdrossenen, die aus Rap-Pamphleten der Marke Bausa irgendeine Form von Ironie herauslesen möchten. Für mich definitiv ein Grund, das Docks weiträumig zu umschiffen. Kein Problem mit Weglassen an dieser Stelle.

Manchmal konnte man auch durch das Weglassen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, ganz zufällig natürlich. So durfte ich einem Konzert von Kraftklub-Frontmann Felix Brummer beiwohnen, der unter dem Alter Ego Kummer den HipHop-Anteil seiner Hauptband pflegt (aber mit Haltung, Freunde!) und auf einer Bushaltestelle mitten auf der Reeperbahn performt, wobei er den Verkehr für kurze Zeit komplett lahm legt. Musikalisch muss man das nicht feiern, aber beachtlich ist das Ganze schon. Gerne wäre ich auch bei dem Überraschungs-Gig von Deichkind vorm Millerntor-Stadion dabei gewesen - da die Show aber angekündigt war, verzichtete ich schweren Herzens darauf. Immerhin standen längst etliche gute Alternativen fest. Auch Spontaneität muss man mal weglassen können.

Keine Kompromisse gibt es für mich hingegen beim Helga!-Award, der dieses Jahr erstmals von den geschätzten Kollegen von Höme! - Das Magazin für Festivalkultur kuratiert wird. Moderiert von Ex-Festivalguide-Chef Carsten Schumacher und dem unverwüstlichen Bernd Begemann ist diese Preisverleihung im Gegensatz zu den prestigeträchtigen VUT und ANCHOR oder auch dem New Music Award, der dieses Jahr zum ersten Mal im Rahmen des Reeperbahn Festivals ausgetragen wurde, eher eine semi-ernste Angelegenheit. Das Credo ist eher: Viel schnacken, viel trinken, viel lachen. Schade nur, dass der diesjährige Helga doch zunehmend lang und weilig geriet, spätestens mit einer nicht enden wollenden Boris Johnson-Persiflage wurde die Aufmerksamkeitsspanne im Imperial Theater spürbar dünner.

Die Videoshow der obligatorischen „Kategorien, die es leider nicht zu den Helga-Awards geschafft haben“ und das wie gewohnt gute Zusammenspiel des Moderatoren-Duos Schumacher/Begemann haben trotzdem Spaß gemacht. In den Reihen der Prämierten befinden sich in diesem Jahr das Open Flair in der Königskategorie „Bestes Festival“, das Watt en Schlick gewinnt den dritten Award in Folge, diesmal für das „größte Glück für den kleinen Geldbeutel“. Das Zurück zu den Wurzeln wird für das „beste Einbeziehen“ ausgezeichnet, den Preis für das „beste Booking“ gewinnt in diesem Jahr vollkommen zurecht das Haldern Pop. Für einen besonderen Moment sorgt der Veranstalter des Alinae Lumr Festival, der in seiner „Dankesrede“ (das Festival in Storkow hat den Preis für die „inspirierendste Festival-Idee“ nicht zu Unrecht gewonnen) eine Lanze für Keychange bricht und fordert, der Helga sollte doch wenigstens anteilig auch von einer Frau moderiert werden, womit er Bernd Begemann merkbar auf die Palme bringt und ihm ein trotziges „Klugscheißer!“ entlockt. Begemann schleudert ihm schließlich hinterher: „Und die Frau hier neben dir auf der Bühne lässt du kein einziges Mal zu Wort kommen!“. Ja, Keychange funktioniert anders, wenn man so will. Das Alinae Lumr ist trotzdem dringend besuchenswert. No offense!

Um Festivals geht es logischerweise auch auf dem Panel „Bewährungsprobe für Festivals“, das von Orange Blossom Special-Oberhaupt Rembert Stiewe moderiert wird und mit Lisa Canehl vom Appletree Garden, Timo Kumpf vom 2020 pausierenden Maifeld Derby, Stefan Reichmann vom Haldern Pop und Carsten Helmich vom JuicyBeats eine illustre Runde in der Speakers Corner der Suite 616 im Arcotel Onyx versammelt. Um eine Marktanalyse soll es gehen - so richtig schlecht geht es aber keinem der vier mit ihren Unternehmungen, die Analyse fällt aus und gerät eher zu einer Zustandsbeschreibung. Da wäre thematisch mehr drin gewesen, aber eine Stunde ist auch verflucht kurz. Die Anschlussgespräche ergeben mehr analytisches - gerne hätte man auch jemanden von einem großen Festival dabei gehabt, die sicherlich einiges dazu hätten beitragen können, inwiefern sich auch die Ansprüche der Konsumenten verändert haben. Die Festivals, um die es hier geht, werden zurecht von ihren Besuchern geliebt, und das wird sich auch in absehbarer Zeit wohl nicht ändern. Aber diese Menschen, die mit ihren Festivals auf der guten Seite stehen, versammelt zu sehen und darüber sprechen zu hören, ist spannend und schön zugleich.

Konzerte gab es dann übrigens auch noch. In diesem Jahr hat zum ersten Mal auch die vormals so angestaubte Country Music einen größeren Platz im Aufgebot des Reeperbahn Festivals erhalten. So darf die Country Music Association mit dem Neon Nashville-Showcase gleich einen ganzen Abend im Touristenattraktions-Irish Pub Thomas Read kuratieren. Das ist und bleibt aber ein komischer Laden, der im realen Leben der Massenabfertigung von Junggesellenabschieden kurz vorm Einbiegen in die Große Freiheit dient. Die rustikal-urige Atmosphäre „richtiger“ Irish Pubs ist hier bloße Behauptung. Da hilft es auch nicht, dass Neon Nashville einen ganzen Tisch mit free Merch (Shirts, Beutel und Caps) aufgebaut hat - irgendwie mag so recht keine Stimmung aufkommen. Mit Blanco Brown, der auf sehr einnehmende Weise Country mit Soul und HipHop vermischt, bekommen wir mit Sicherheit das Highlight im Aufgebot zu sehen. Sehr selbstironisch gibt der Vollbartträger den Crooner und hat spürbar Spaß daran, mit Klischees zu spielen. „The Git Up“ ist ein kleiner Hit, in einem anderen Song singt Brown: „You’re a glass of champagne and I’m tennessee whiskey“. Darf man sich für später merken.

Überraschend schwach gerät das Konzert der Bloxx im Nochtspeicher am BBC Music Introducing-Abend. Dass der Laden nur zu bescheidenen zwei Dritteln gefüllt ist, mag auch an der nicht allzu vorteilhaften Lage des Venues liegen. Aber die Band um Ophelia Booth, die vor zwei Jahren mit „Second Opinion“ zurecht einen Indie-Dancefloor-Hit hatte, lässt insgesamt zu viel Charisma vermissen, spielt sich zwar recht engagiert durch ihr 40minütiges Set, baut aber kein Band auf, auf das sich aufbauen ließe. Solider Indierock mit leichten Shoegaze-Anleihen macht noch keine Liebe. So geht dieser Auftritt leider als Enttäuschung durch.

Ganz anders verhält es sich mit Roast Apple im knallvollen Sommersalon. Das Quartett aus Niebüll dorthin zu buchen, macht namenstechnisch Sinn. Hier gibt es sommerleichten Indiepop mit Anleihen aus Soul und Funk, man hat im Kopfkino den Strand wieder vor sich und das Surfbrett unter den Füßen, und dann heißt ihr erster kleiner Hit auch noch „Scandinavian Summer“ - das klingt jetzt wie eine kaum ertragbare Anhäufung von Klischees, ist aber ungeheuer catchy und herzerwärmend und erinnert an Mitstreiter wie die Rikas oder gern gehabte Vorgänger wie die Isländer von Retro Stefson. Schöne Sache, begeisterte Menschen: Von denen wird man noch hören.

Das gleiche gilt auch für Black Country, New Road, allerdings aus anderen Gründen, beziehungsweise durch eine vollkommen andere musikalische Ausrichtung. Was für ein Klangmonster sich da auf der kleinen Molotow-Bühne aufbauen würde, konnte man im Voraus erahnen, und auf dem Zettel haben durfte man das Sextett aus London durchaus schon vorher. Die pure Wucht, die einem in diesen faszinierenden Sound-Epen zwischen Postrock, Jazz und Avantgarde entgegen schlägt, ist hochfaszinierend; wie eine weniger wilde Version von Black Midi, könnte man sagen. Lange Bläsersätze, Spoken Word-Passagen, ausschweifende Jazz-Intermezi neben malerischen Postrock-Passagen - das bringt einen auf positive Weise ganz schön durcheinander, ein tolles Erlebnis und definitiv ein sehr intensiver Vorbote auf alles, was von dieser Band noch kommen wird.

In der St.Pauli-Kirche gibt es das schönste Konzert des ganzen Festivals zu sehen. Da präsentiert der Münchener Carlos Cipa nämlich sein neues Album „Retronyms“, das wir bereits vorab als jetzt schon beste Contemporary- bzw. Neoclassical-Platte des Jahres adelten. Wie sehr ich mich darin bestätigt fühle, nachdem ich die Kirche wieder verlasse und mich fühle, als müsste ich das geträumt haben. Mit Ensemble an Bläsern und Streichern ist dieses Konzert wirklich ein Fall in eine andere Welt, dem man sich nur zu gerne hingibt, surreal, cineastisch, sehr suggestiv und bis ins Zerbrechlichste filigran gelingt hier ein Trip in so wunderschöne Klangkosmen, dass ich mir mehrfach die Tränen aus den Augenwinkeln wischen muss, einfach weil ich so zutiefst berührt, ergriffen und überwältigt bin. Carlos Cipa hat vor „Retronyms“ zwei Alben veröffentlicht, die sein Klavier in den Fokus stellten, doch mit diesem Ensemble-Sound hat er sich selbst übertroffen. Schlicht und einfach wunderbar.

Ganz enorm beeindruckend gerät auch die Performance vom Kanadier Alex Henry Foster, der sehr eigenwillige Self-Marketing-Ideen mit zum Festival gebracht hat. Gleich am Mittwoch wird man auf dem Spielbudenplatz von langhaarigen Typen in orangenen Knast-Overalls angesprochen, die einem freundlich eine Karte mit den drei Konzertterminen Fosters an diesem Wochenende in die Hand drücken. Der Mann hat was vor, so viel scheint schnell klar; hier möchte jemand, dass man ihm zuhört. Und weil das ganze keine billige Maschine zu sein scheint - die Jungs sind wirklich äußerst freundlich - folgt man dem Ruf gern. Und bitte, was für eine Belohnung. In Angie’s Nightclub spielt Foster mit seiner siebenköpfigen (!) Band, zu der übrigens auch unsere langhaarigen neuen Freunde gehören, exakt drei (!) Songs. Wobei - was heißt hier Songs? Es sind eher urgewaltige Epen, getränkt in tiefer Trauer und Düsternis, getragen von Bläsern und brachialen Riffs, aber eben auch immer wieder von leisen Momenten, in denen Alex Henry Foster zu sich selbst zu sprechen scheint, bevor all die Verzweiflung wieder herausbricht aus diesem kleinen Mann, der trotz (oder gerade wegen) all der deutlich spürbaren Karthasis nach dem Konzert förmlich gelöst mit dem überwältigten Publikum plaudert. Was für ein irrer Wahnsinn.

Kai Schumacher ist dann wieder ein Virtuose am Piano. Sein neues Album „Rausch“ trägt diesen Namen zurecht; was der Mann im Rahmen der Neue Meister-Labelnight im Resonanzraum zeigt, ist pure Kunst. Zugleich der Tradition wie der Moderne verpflichtet paart er ein grandioses wie rauschhaftes Klavierspiel mit beinahe technoiden Vibes, die er mit seinem präparierten Flügel selbst erzeugt. Das ist ziemlich beeindruckend und überwältigend. Genau wie der direkt darauf folgende Auftritt von We Were Promised Jetpacks im Uebel & Gefährlich zwei Etagen höher, die einzigen alten Helden, deren Ruf ich an diesem Wochenende folge. Die Schotten spielen anlässlich des Geburtstages des Debüts „These Four Walls“ das ganze Prachtwerk in voller Länge, ein Fest zwischen Indie- und Postrock, und es funktioniert alles immer noch genau so gut wie vor zehn Jahren. Die Wucht und die Erdigkeit von Stücken wie „Quiet Little Voices“ (immer noch ein Riesenhit) oder „Keeping Warm“ hat nicht das geringste von ihrem Reiz verloren.

Ein paar Kurze gibt es auch. Nicht in Schnaps-, sondern in Konzertform. Ganz wunderbar lässt sich der Auftritt der Dänen von Melby an, die in schönster Herbstsonne auf dem Heiligengeistfeld ihre filigranen Folk-Melodien in den Tag hinein spielen und das Gefühl in uns wecken, als wären wir das Leichteste der Welt. Sehr 60s-referenziell, mit Melodiebögen, die in den seltensten Fällen berechenbar sind, umschmeichelt uns die glockenhelle Stimme von Matilda Wiezell, und in uns wachsen bunte Blumen. Die Mighty Oaks stellen sich am Reeperbus als Trio rein an Gitarren für den Abend im Michel vor - nach wie vor ist alles, was diese Band macht, technisch sehr schön, aber auch nur sehr oberflächlich und somit zu keinem Zeitpunkt intensiv. Ganz anders der Londoner JNR Williams mit einer wunderbar weichen Stimme und einem Sound zwischen Soul und Jazz Lust auf ein Wiederhören macht - und das obwohl wir es nur noch zu zwei Songs von ihm schaffen. Nicht vergessen werden darf die koreanische Band Say Sue Me mit ihrem Lo-Fi-Jangle-Folk-Pop mit knackigen Grunge-Riffs, die klingt, als wäre sie ein vergessenes Relikt aus den 90ern. Die fragile Stimme von Sängerin Sumi Choi tut ihr Übriges; Say Sue Me setzen ein Ausrufezeichen für die koreanische Musikszene. Werden wir uns nochmal in Ruhe anhören!

Beim PIAS BBQ offenbart uns das Hamburger Herzenslabel eine grandiose Bandbreite. Die futuristische Electronica mit nachtschwarzem Pop-Appeal von Mottron ist dabei lediglich interessant; weitaus zupackender klingt die Australierin Ali Barter, irgendwo zwischen den mächtigen College-Riffs von Weezer und dem rootsigen Folkrock der frühen Alanis Morissette. Das hat gleichzeitig Kraft und Verletzlichkeit, und auch Ali Barter gerät stimmlich immer mal wieder in schwer erträgliche Sphären, aber insgesamt macht diese kurze Stippvisite sehr viel Spaß. Die wundervolle Arlo Parks spielt mit ihrer Band sehr versierten Soulpop, wunderbar weich und innig, auch wenn sie sich hier im Backyard spürbar erst einmal finden muss. Das ist definitiv Musik, der man zuhören und folgen möchte; wir sind gespannt auf das erste Album. Der Bruch zu Squid ist dann ein harter: Die Band aus Brighton spielt Working Class Punk, wie er erfreulicherweise derzeit so häufig in guter Qualität von der Insel kommt, gönnt sich dabei aber eine gehörige Portion Avantgarde. Vor allem das Organ von Sänger Ollie Judge, der übrigens gleichzeitig auch der Schlagzeuger ist, ist ein Trademark: Er wechselt in atemberaubendem Tempo zwischen Gebrüll und Falsett, was sehr anstrengend ist, aber den zugleich spielfreudigen und frustrierten Gestus seiner Band perfekt unterstreicht.

Die größte Überraschung des Festivals geht dann aber auch noch rein; die erleben wir zum Abschluss des Wochenendes, nachdem wir uns eigentlich innerlich schon für dieses Jahr vom Reeperbahn Festival verabschiedet hatten. Die Füße tun weh, die Köpfe sind voll von Eindrücken, eigentlich ist es ein guter Moment, um aufzuhören, aber die Pierce Brothers in der Spielbude kann man sich schon noch anschauen. Gute, sehr gute Entscheidung. Das australische Brüderpaar kommt ursprünglich von der Straßenmusik, was man an der rauen Energie ihrer Folk-Songs durchaus noch spüren kann. Aber dass die beiden auf eine so zupackende Weise alles abreißen würden, damit hatte ich nicht gerechnet. In atemberaubenden Tempo mit wirklich beeindruckender Technik spielen die Pierce Brothers alles gleichzeitig, Gitarre, Schlagzeug, Mundharmonika, sogar Didgeridoo, klöppeln sogar auf den Bühnenmasten oder gegenseitig auf ihren Gitarren herum und erzeugen einen so unfassbar wilden Drive, dass vor der Bühne keiner still stehen KANN. Das Songwriting der beiden mag sehr eindimensional sein - alles läuft immer wieder auf ausgedehnte wooo-hooo-Passagen mit ausdrücklicher Einladung zum Mitsingen und den großen Ausbruch am Songende hinaus, aber die ART und WEISE, wie sie trotzdem den Spannungsbogen über eine komplette Stunde aufrecht erhalten, nötigt mir riesigen Respekt ab. Vor allem ist es grandios zu sehen, wie viel Spaß die Pierce Brothers selbst an der ganzen Nummer haben; die genießen hier echt jede Sekunde, und als sie sich am Ende voll des Dankes verabschieden, müssen sie spürbar glücklich und überwältigt mit den Tränen kämpfen. Das geht tatsächlich zu Herzen. Großer Pop, aber dabei auch tatsächlich großes Können - besser als so kann man hier nicht nach Hause gehen.

So hat uns die Kunst des Weglassens tatsächlich wieder ein wundervolles Reeperbahn Festival beschert; auch der Abschluss ist ein feiner Beweis dafür, hatten wir uns doch ganz bewusst dagegen entschieden, noch mehr Zeit in einer endlosen Schlange mitten im Samstagabends-Irrsinn auf der Großen Freiheit zu verbringen und von betrunkenen Partytouristen angerempelt zu werden, bloß weil wir ursprünglich The Subways sehen wollten. Weglassen bedeutet schließlich nicht, dass am Ende nichts mehr übrig bleibt. Oh nein: Wir haben den Stress und den Druck in Bewusstsein für den guten Moment verwandelt, sind lieber mal länger bei einem guten Gespräch sitzen geblieben, als eine Stunde vorher an den beliebtesten Spots zu stehen, nur um dann vielleicht doch nicht eingelassen zu werden. Vom Zwang, wirklich überall da sein zu müssen, wo wir es uns vorgenommen hatten, will ich gar nicht erst anfangen. Es hätte sich ja doch nur in Frust und Hetzigkeit umgekehrt. Wie schnell kann man in der Lage sein, sich auf tolle Musik einzulassen, wenn man noch Sekunden davor wie ein D-Zug über die Reeperbahn gejagt ist? Auf Knopfdruck läuft hier nunmal gar nichts.

Das Reeperbahn Festival funktioniert nun mal über die Flexibilität, das Situative, das Entscheiden. Abermals sind gute Impulse, vertiefte Freundschaften und dann doch überraschend viele eindrucksvolle Musikmomente mein persönlicher Gewinn. Gut, dass das so war. Und wenn ich zuhause meinen Goodie Bag ausleere, finde ich bei all den tollen Eindrücken, die sich erst einmal setzen müssen in mir, im letzten Winkel auch schon wieder eine gute Portion Vorfreude aufs nächste Jahr in Hamburg. Weil sich dieser Overkill auf der Reeperbahn einfach so verdammt schön anfühlt - vorausgesetzt, man ist in der Lage, an den richtigen Stellen zu verzichten.


Text und Foto: Kristof Beuthner


P.S.: Im Gegensatz zu den letzten Jahren sind keine Fotos im Artikel. Auch hier habe ich weggelassen, und zwar ganz bewusst, als mir endgültig klar wurde, dass der Moment nicht durch eine Linse wahrhaftig wird. Ich habe mich lieber dafür entschieden, die Situationen bewusst zu genießen, um im Anschluss davon erzählen zu können. Kein Foto könnte euch nachvollziehbar erzählen, wie beeindruckend etwa das Konzert von Alex Henry Foster war oder wie überwältigend das Erlebnis bei Carlos Cipa in der Kirche. Probiert es mal aus!