Artikel 08.08.2019

Vom Weltuntergang und wie alles gut wurde: Nillson beim Appletree Garden 2019

Vieles hat man schon gesehen beim Appletree Garden Festival, Wüsten aus Schlamm, tanzenden Staub im Sonnenlicht, grandiose Konzerte sowieso. Manchmal, wie in diesem Jahr, macht das Wetter dann aber Sachen, die uns noch einmal ganz besonders verdeutlichen, wieso dieses kleine große Festival in Diepholz uns so sehr am Herzen liegt. Es gab also ein Happy End, ohne zu spoilern.

Wann ist ein Festival-Wochenende perfekt? Lebt es allein von der Symbiose aus guter Laune, kalten Getränken, dem guten Sound ausgewählter Lieblingsbands und Zeit mit den besten Freunden? Oder sind es manchmal gerade die Momente, in denen alles in sich zusammen zu stürzten scheint, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben? Fakt ist: Spricht man über das Appletree Garden 2019, dann spricht man vor allem über den Freitagabend, die Sintflut, die Flucht, den Abbruch. Aber das ist gar nicht negativ, frustriert oder nölig gemeint - weit davon entfernt! Denn man spricht dann auch über alles, was daraus erwuchs, die unermessliche Freundschaft, die unbeschreibliche Energie, die Hilfsbereitschaft, und dass am Ende alles gut wurde. Doch ich fange wohl besser von vorne an.

Denn schöner, festivalfreundlicher, schlichtweg herrlicher hatte es doch kaum sein können am Eröffnungs-Donnerstag in Diepholz. Wunderbarster Sonnenschein, die Stimmung ein Traum, rote Schilder mit grünen und goldenen Äpfeln an den Straßenecken, die verheißungsvoll den Weg weisen in den schönsten Wochenend-Eskapismus unter leuchtenden Blumen, bunten Lampions und wehenden Wimpeln; zwischen all den immer mehr werdenden, liebevoll gestalteten Skulputuren an Stangen, Regenschirme mit Glitzergirlanden, Anker mit Lichterketten und was es nicht noch alles gab;  drei märchenhafte, tanzfreudige, erinnerungswürdige, taumelnde Tage vor uns, in denen wir abtauchen würden, bar jeden Interesses für alltägliche Scherereien. Freunde, Musik und das erhabene Gefühl, in der guten Sache Eins zu sein: Das Appletree Garden kann das, seit 19 Jahren kann es das, und wir sind mehr als bereit, uns diesem Gefühl in Gänze hinzugeben.

Frisch eingecheckt, das Bändchen sieht gut aus an unseren Armen, führt uns der Weg zum leuchtenden Tor über den Campingplatz, und das wärmende Bewusstsein, dass wir uns in dieser guten Sache einig sind, erfüllt uns mit tiefer Zufriedenheit, Gelassenheit und Glück. Hinter den Schleusen, zwischen Spiegelzelt-Areal und Festivalgelände, durchschreiten wir noch ein Tor; es hat in diesem Jahr die Gestalt eines mächtigen Augapfels. Das passt. Vorne blau eingerahmt, betreten wir das „Innere“ des Auges, die Innenseite ist bunt, und alles dahinter ist es auch, als beträten wir die imaginierte Welt eines fantasievollen Geistes. Das Appletree Garden und seine liebevolle Kunst: Das passt einfach zusammen.

Da ist es auch in Ordnung, dass der Donnerstag musikalisch noch Luft nach oben lässt. Alli Neumann ist ein gut geeigneter Opening Act für die Hauptbühne, der soliden Pop bietet, jedoch nicht nachhaltig berührt - so lässt sich der allerdings sehr enthusiastischen und durchaus sympathischen jungen Flensburgerin am besten vom Burger Biene-Stand aus zuschauen bzw. -hören. Neufundland aus Köln klingen wie eine erwachsenere Version von Von Wegen Lisbeth, wobei deren jugendliches Taumeln ja gerade auch den Charme ausmacht. Und Joan As Police Woman ist in der Folge der beiden sehr energetischen Auftritte auf der Hauptbühne leider eher eine kleine Bremse; die Songs von Joan Wasser, die sie solo, nur an Klavier und Gitarre im Wechsel präsentiert, sind fraglos wunderschön und die Darbietung ist sehr intim, aber sie lässt die Stimmung im Publikum natürlich nicht hoch kochen, sondern sorgt an einer Stelle im Timetable für Andacht und Innehalten, die eigentlich Festivalfreude verbreiten und anstacheln sollte - am frühen Nachmittag auf der kleineren Waldbühne oder im Spiegeltent wäre das ein ganz anderes Ding gewesen.

Dort begegnen wir im Anschluss den Holländern von YIN YIN, einer Band, auf die wir uns mit am meisten gefreut hatten. Das Quartett aus Maastricht verbindet Rock, Funk und Psychedelic mit Elementen der südostasiatischen Musik der 60er und 70er, was eine spannende Prämisse ist, zumal aus der Live-Performance des Ganzen tatsächlich ein brodelnder und höchst tanzbarer Mix entsteht, der überraschenderweise etwas Anlaufschwierigkeiten hat, mit zunehmend fortschreitendem Set aber den Holzboden ziemlich fordert. Manche um uns herum verlassen das Zelt aber auch, es fehlt ihnen der Gesang - mir fehlt er nicht; ich lasse mich gerne durch dieses faszinierende Klangspektrum tragen, hätte mir das Konzert allerdings insgesamt noch etwas lauter gewünscht.

So ist es schließlich an den beiden größten Namen im donnerstäglichen Lineup, für die mächtigsten Momente des Appletree-Eröffnungstages zu sorgen. Fil Bo Riva fahren ja ohnehin inzwischen den Erfolg ein, den ihre 2016er EP „If You’re Right, It’s Alright“ versprochen hatte - nur hat sich das Klangkostüm von Filippo Bonamici und seiner Band inzwischen spürbar verändert. Den AnnenMayKantereit-Vergleich der ersten Songs hat er auch stimmlich hinter sich gelassen (gut so!), wobei „Killer Queen“, „Franzis“ oder natürlich „Like Eye Did“ nach wie vor grandiose Stücke sind und er live wieder in sein Raubein-Organ zurück verfällt - die neuen Stücke vom Debütalbum „Beautiful Sadness“ sind weitaus popnäher und weniger folky. Dass er so beiläufig und nonchalant beide Welten auf der Bühne miteinander verbindet, zeigt seine Wandlungsfähigkeit und Vielseitigkeit; dazu ist er auch als Crooner merkbar gewachsen, was dem Konzert einen gleichzeitig mitreißenden wie edlen Anstrich verleiht.

Der Tag endet für uns mit Franc Moody, die ich zugegeben überhaupt nicht auf dem Schirm hatte und mich daher wunderte, wie Ned Franc, John Moody und ihre Band es auf den Headliner-Posten für den Donnerstag geschafft hatten - aber ich lerne dazu, und das ist gut, denn die Entscheidung des Booking Teams ist konsequent und völlig richtig. Die Band aus London beweist es mit einem absolut grandiosen Disco-Ausflug, Funk, Soul, Elektropop, die Einflüsse sind zahlreich und die Energie konkurrenzlos. Die Menschen vor der Bühne kommen endlich so richtig ins Tanzen und lässt sich von der atemberaubend guten Laune anstecken, das macht wirklich ungeheuer viel Spaß. Diese Band muss ich mir auf den Zettel schreiben - definitiv eine Entdeckung. Und wie es inzwischen üblich ist, wird ein Tag auf dem Appletree Garden von einem DJ nach Hause gebracht, der oberhalb des Spielplatzes über dem „Waffeln & Wodka“-Stand thront. Heute ist das Jan Oberländer, der ein ziemlich energisches, kraftvolles Techno-Set auflegt, als wolle er sagen: Jetzt kann das Festival aber wirklich starten! Geht los!

Der Freitag beginnt mit Lesungen von Dirk Gieselmann, Appletree Gardens Local Hero, und Paul Bokowski - und ich finde es schön, denn das sorgt für einen angenehmen, leisen Aufgalopp; man muss noch nicht tanzen, es genügt, entspannt auf dem Boden des Spiegelzeltes zu sitzen und zu lauschen, und zwischendurch muss man auch lachen, weil beide einfach gute Erzähler sind und man ihnen gerne zuhört. Im Anschluss beweist Lisa Morgenstern, dass das erste Konzert auf der Waldbühne am frühen Nachmittag sehr gerne ein ruhiges, leises und intimes sein darf, weil es den Tag mit Musik aus der Lethargie erweckt und man die Antennen nach und nach, begleitet von wunderschönen Tönen, wieder auf Empfang stellen mag. Faces On TV schaltet dann gemächlich einen Gang höher, immer noch nicht laut, grell und bunt, dafür aber schillernd vielseitig mit spannendem Sound in der Schnittstelle zwischen TripHop, Ambient und majestätisch großer Pop-Geste.

Aber so langsam steigt ja auch die Neugier, denn für den Slot von 16:30 bis 17:20 steht lediglich ein Fragezeichen im Programmheft. Das kennen wir schon vom Appletree Garden; es gab schon Jahre, da waren gleich drei Acts vorher nicht bekannt, und weil wir dem Booking Team hier vertrauen, lohnt sich die Wundertüte in der Regel - mit der Geheimniskrämerei in diesem Jahr hat es sich allerdings selbst übertroffen. Denn die Bühne betritt niemand anderes als AnnenMayKantereit - das ist mal wirklich ein Surprise Act. Das ergibt unendlich viel Sinn. Back in the days, 2014 war es, da spielten AnnenMayKantereit zum ersten Mal beim Appletree Garden. Es war das legendäre Matschjahr, als Gelände und Parkplatz schwarz waren vom Schlamm und es einfach nicht aufhören wollte zu regnen, aber als Henning, Severin, Christopher und Malte als Samstags-Eröffnungsact die Waldbühne betraten, da kam die Sonne raus und alles wurde gut, zumindest bis am Sonntagmorgen die Frage, wie man sein Auto wohl wieder vom zugeschlammten Parkplatz bekommen könnte, sich wieder schmerzhaft in den Vordergrund drängte. Erstmal aber standen die Menschen mit offenem Mund und Tränen in den Augen vor dem, was sich ihnen da offenbarte; da war Staunen über Henning Mays Stimme und die Unmittelbarkeit, die dieses Konzert erzeugte, obwohl man die Band damals noch so gar nicht auf der Rechnung hatte, und da war Rührung über die scheinbare Simplizität der Texte, aber auch ihre ungeheure Wucht und Treffgenauigkeit, mitten dahin, wo man es am meisten fühlte. Es war völlig klar, dass das was war mit uns.

Und so oder so: Appletree Garden und AnnenMayKantereit - das passte. Während die Band immer größer und größer wurde, kam sie immer wieder nach Diepholz zurück, 2015 und 2016 dann natürlich als Headliner auf der Hauptbühne, aber einfach so gerne, weil sie hier hingehörten. Hier war nicht Stadion und Pop und größer und immer größer, dafür war zu anderen Zeitpunkten genug Platz. Hier waren Menschen, die sie nach vorne gebracht hatten, in unvergleichlicher Atmosphäre, und sie waren den Weg mit der Band zusammen gegangen bis heute, liebevoll und jubelnd. Sie hatten sie losgelassen auf die riesigen Festivalbühnen, so wie von den Stages der kleinen Clubs in die großen Konzertsäle, aber sie wurden belohnt, weil AnnenMayKantereit einfach immer wieder gerne zurück aufs Appletree Garden wollten. Darum rundet sich die Story auf die richtigste Art und Weise ab: Mit einem Surprise-Konzert von AnnenMayKantereit, am Nachmittag, auf der kleinen Bühne. Es ist ein großes, tolles, Wiedersehensfest, mit neuen Stücken vom zweiten Album „Schlagschatten“ und den liebgewonnenen - ja, man möchte sie fast schon Evergreens nennen. Aber über allem steht die Freude, sich zurück zu haben, und das macht dieses Konzert zu einem wunderbaren Ereignis für alle, die dabei waren.

Ohnehin liebt das Appletree Garden seine Bands und die Bands lieben dieses Festival zurück. So viele Wiedergänger wie 2019 gab es noch nie im Appletree-Lineup: Mit AnnenMayKantereit, Fil Bo Riva, Dirk Gieselmann, Jungstötter (mit Sizarr), Bonaparte, Hundreds, Käptn Peng, Say Yes Dog, Giant Rooks, Kate Tempest, Balthazar und Cari Cari standen dieses Jahr satte 12 Bands und Künstler im Programm, die eine Vergangenheit mit diesem Festival haben, und das ist für Größenordnungen wie die vom Appletree durchaus ungewöhnlich - wie im Fall von AnnenMayKantereit geht das aber deswegen in Ordnung, weil die Menschen, die hierhin kommen, ein großes Gefühlskino aus Freiheit, Losgelöstheit, Freude, Liebe und Glück, und damit einhergehend eben auch tollen Erinnerungen und Wiedersehenseuphorie kreieren. Das funktioniert ganz wunderbar hier.

Wie dem auch sei: Nach dem Surprise Act setzt sich der Hunger durch, und überhaupt, das Appletree wäre nicht das Appletree, wenn man nicht auch ein wenig Zeit auf der Lichtung unter den Bäumen verbringen würde, kurz den Kopf ausschaltet und all das Bunte und die schöne Energie der Menschen um sich herum einfach mal wirken lässt. Das geht auf Kosten von International Music und dem Golden Dawn Arkestra, aber alles anzuschauen, ist dann doch irgendwie nicht machbar. Wenn wir allerdings gewusst hätten, dass den beiden Bands an diesem Tag (erstmal) nicht mehr viel Musik folgen würde, hätten wir uns vielleicht anders entschieden.

Denn beim Konzert der großartigen Whitney - viel Folk, viel Country, viel Sommerglanz, ein wenig frühe Portugal. The Man, und Julien Ehrlichs sehr markante Stimme, die mir von Platte häufig zu anstrengend ist, sich live aber ganz wunderbar in den strahlenden Bandsound einfügt - zieht der Himmel sich zu. Ja, ein Gewitter war angekündigt, aber ihr kennt das, auf einem Festival ist erst schlechtes Wetter, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, und auch erst dann glaubt man daran, dass einem wirklich der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Die Falle schnappt zu. Die ersten Tropfen kommen. Wir suchen Schutz unter einem Baum. Es bringt nichts, nicht im Entferntesten. Innerhalb von zehn Sekunden sind wir nass bis auf die Knochen, natürlich haben wir weder an Regenzeug noch an Gummistiefel gedacht, der Wunsch war Vater des Gedanken, wird schon nichts passieren. Jetzt stehe ich da und kann nicht einmal die Augen öffnen, weil mir Hagelkörner ins Gesicht prasseln. Als eh alles egal ist und die Fluten einfach nicht aufhören wollen, ergreifen wir die Flucht und werden von einem Landwirt in die Scheune gewunken. Diese soll bei Unwetter zur Evakuierung dienen - nur hat das scheinbar keiner so richtig mitbekommen. Erst eine knappe halbe Stunde später gesellen sich weitere klatschnasse Flüchtende zu uns und die Scheune füllt sich.

Was passiert draußen? Durchsagen von der Bühne habe es gegeben; parallel dazu kämpft sich das Orga-Team über den Campingplatz, versucht, für Ordnung zu sorgen und eine Richtung vorzugeben, entweder in die rettende Scheune, oder aber in eilig bereit gestellte Busse, die den obdachlos gewordenen eine Fahrt in eine Diepholzer Grundschule spendiert, die Turnhalle wird zur nächtlichen Notunterkunft. Es ist Weltuntergang beim Appletree Garden, und zwar so, wie wir das noch nie gesehen haben, und wir haben hier schon viel gesehen. Die stärksten Regenfälle des Jahres, und ausgerechnet an diesem Wochenende, das ist zwar meinetwegen Festival, aber irgendwie ist es auch nicht fair. Als es uns in der Scheune zu voll wird, machen wir uns auf den Weg zum rettenden Wohnwagen, über Social Media wird der Abbruch des Programms bis auf weiteres verkündet, alles schwimmt davon, aber glücklicherweise nicht die gute Laune.

Und jetzt passiert etwas faszinierendes, etwas berührendes. Denn plötzlich wächst das Appletree Garden mit seinem guten Geist, es dehnt sich aus, wird größer als der Bürgerpark, es vereinnahmt den ganzen Ort. Die Diepholzer wachsen über sich hinaus. Fast minütlich bieten sie bei Facebook Schlafplätze, trockene Klamotten, heiße Getränke, einen Handy-Ladeplatz und etwas Ruhe an, Abholung na klar inklusive, und nach einem Frühstück am nächsten Morgen bringen wir euch wieder hin. Was für eine Hilfsbereitschaft, was für eine Anteilnahme. Es ist überwältigend, gigantisch, magisch. Und es entspricht in jeder Facette dem Spirit dieses einzigartigen Festivals, das heute gewinnt, obwohl es kurz die Fassung verliert.

Tamino und die Hundreds fallen dem Regen zum Opfer, was schade ist. Schön jedoch, dass die anderen angekündigten Bands tüchtig Spielbock haben und sich von dem bißchen Regen so gar nicht das Wochenende zerstören lassen. Bonaparte bauen einfach mal die Instrumente im Cateringbereich vom Backstage auf und spielen ein paar Songs für die Crew. Heimorgel-Discotizer Mambo Schinki spielt satte zweieinhalb Stunden im Bändchenzelt auf dem Campingplatz, das ist die richtig dicke Fete. Und als das Orga-Team sich kurzfristig entscheidet, nachts um 1.00 wenigstens das Spiegelzelt noch einmal zu öffnen, werden die Glücklichen, die das rechtzeitig mitbekommen und einen Platz darin gefunden haben, Zeuge eines wunderbaren Beweises für Gemeinschaftlichkeit, Freundschaft und Flexibilität. Bonaparte und Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi teilen sich die kleine Bühne, erst ein paar Songs von mir, dann ein paar von dir, dann ein paar zusammen, easy! Und danach stöpseln sich Kid Simius, Ameli Paul und Shkoon an die Regler, spielen sich gegenseitig die Bälle zu und feiern einfach zusammen die Nacht. Es gibt gute Dinge, die passieren einfach, und besonders dann, wenn alles andere gerade in sich zusammen fällt. Was für ein Fest.

Am Samstag verlassen wir den Parkplatz mit großer Skepsis, denn die Einfahrt ist ziemlich rutschig geworden, aber wir müssen los, die Schuhe sind hin, und die Gummistiefel habe ich ja wie gesagt vergessen, also müssen neue her. Aber als wir wiederkommen, sieht der Platz aus, als wäre nichts gewesen. Der Campingplatz ist nur ganz wenig mitgenommen, aber auch das Festivalgelände zeigt nicht die geringsten Anzeichen, dass hier gestern die Welt untergegangen ist. Das Unwetter wirkt nur noch wie ein böser Traum. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, alles ist wieder gut und der letzte Festivaltag kann losgehen.

Er beginnt für uns mit Say Yes Dog - als das Trio 2015 hier spielte, war es Nacht und sie ließen das Festival ausklingen, aber auch am späten Nachmittag passt der Elektropop des deutsch-luxemburgischen Trios ganz ausgezeichnet zur ausgelassenen Gesamtsituation. Die Songs der neuen Platte „Voyage“ sind gut und der Sound entwickelt live einen ordentlichen Punch; bisher ist es das beste Konzert des Wochenendes. Aber auch der umjubelte Auftritt der Giant Rooks ist nicht zu verachten. Die sind immer noch sehr jung, aber sie werden auch einfach immer besser; Frederik Rabe hat sich in seiner Eigenschaft als Frontmann in punkto Freiheit, Losgelöstheit und Enthusiasmus spürbar wieder ein ganzes Stück nach vorne entwickelt; inzwischen haben die Giant Rooks auch ein paar Hits im Rucksack; da fällt es inzwischen wirklich schwer, sie wirklich noch Newcomer zu nennen. Richtig schöne Auftritte spielen übrigens auch Tshegue und Ibeyi auf der Waldbühne - höchst energetisch, sehr tanzbar, äußerst mitreißend, und auch Kate Tempest beweist sehr eindrucksvoll, warum sie mit all der Wut und Dringlichkeit in ihren Raps und Shouts zu den derzeit wichtigsten und anerkanntesten Künstlern Großbritanniens gehört.

Aber das ist alles nichts gegen das absolute Gewinner-Konzert des Wochenendes, und diese Krone gehört dem niederländischen Trio My Baby. Eigentlich, so fanden wir vorab, gehört diese Band in die Natur, mit wehenden Haaren, und wenn noch ein Strand in der Nähe wäre, fänden wir das auch nicht schlecht. Aber Cato van Dijck und ihre Jungs verwandeln das Spiegelzelt in einen Club, ihren Club, das geht ganz schnell. Den Sound von My Baby zu beschreiben, ist ein schwieriges Ding: Irgendwo zwischen Soul, Blues, Swamp, Funk, Indierock, Folk und Voodoo hat diese Band einen Sound kreiert, der wirklich ungeheuerlich mitreißt und irrsinnig tanzbar ist, vor allem, weil Catos Bruder Josst an den Drums im Zusammenspiel mit Bass und E-Gitarre fast schon einen technoiden Sog entfaltet. Hier steht niemand still, alles tanzt, springt, eskaliert, muss sich zwischenzeitlich nach Aufforderung hinsetzen und hüpft dann nur noch energischer durcheinander. Cato van Dijcks unfassbar facettenreiche und intensive Stimme, die unablässig antreibt und gleichzeitig betört, habe ich da noch gar nicht erwähnt. Am Ende sind wir platt und sehr glücklich, und wenn du gefragt wirst - oder dich selbst fragst - warum du eigentlich auf Festivals fährst, muss die Antwort immer My Baby lauten.

Natürlich sind MEUTE die angemessene Krönung für ein solches Festivalwochenende, an dem zwischen Euphorie und Zusammenbruch alles gegeben war. All die Eindrücke kann man sich nun noch einmal aus dem Körper tanzen, nein, man tanzt mit ihnen, alles verbindet sich zu einem überwältigenden Finale, Techno und Bläser und riesige Energie mobilisieren noch einmal alles, und es hätte dann Schluss sein können, denn mehr Glück passt nicht rein. O/Y bedient sowieso eher die Melancholie im Tanz, sein faszinierendes Set im Zelt wäre der allerschönste Closer gewesen, Cari Cari setzen da mit ihrem Tarantino-esken Surfpunk nichts mehr obendrauf, und Iorie bringt das Appletree Garden 2019 vom Waffel-Tower aus mit seinem Misch aus Deep und Slow House konsequent stilvoll zu einem würdigen Ende. Puh, was für ein Wochenende.

Die Geschichten, die wir im Anschluss erzählen, werden somit tatsächlich ausschließlich gute sein. Die Unverdrossenheit, die jetzt-erst-recht-Mentalität der Appletree-Besucher, die Freundlichkeit, die Hilfsbereitschaft der Diepholzer, das aneinander Aufrichten trotz Regen und Schwimmflügelbedarf, das gegenseitig Aufnehmen und das Leben einfach trotzdem feiern, das ist Liebe. Es war kurz hektisch, kurz war es schwierig, doch am Ende schaute man in glückliche Gesichter, weil Pläne funktioniert haben, weil Lösungen aus sich heraus entstanden sind, weil jeder von seinem Platz aus das richtige getan hat. In meiner Ankündigung zum Appletree Garden 2019 schrieb ich, es wäre kaum noch irgendwo so einfach, mit einem Festival eins zu werden. Dieses Wochenende hat diese Erwartung sogar noch übertroffen, als es einen ganzen Ort mit dem Gefühl des Zusammenhalts umarmt hat.

Wir haben wieder wunderbare Konzerte gesehen, haben unter den bunten Blumen getanzt und auf dem Rücken liegend auf der Lichtung dem Diamanten beim Drehen zugeschaut; all die spürbare Hingabe bei der Gestaltung dieses kunstvollen Märchenwaldes mit jeder Zelle aufgesaugt und uns wohl gefühlt, weil wir Teil davon sein durften. Wir waren drei Tage lang tatsächlich eins mit einem Festival, und an wenigen anderen Orten fühlt sich das so gut an.

So soll es bitte immer bleiben.


Text: Kristof Beuthner

Fotos: Christina Schoh