Artikel 29.12.2019

The Musikjahr was a tiny bit of heaven: Nillson-Jahrescharts 2019

Ein Musikjahr geht zu Ende und ein neues wird ihm folgen. Wie wird es klingen? Das können wir noch nicht ahnen! Und Vorfreude ist ja bekanntlich sowieso die schönste Freude. Der Nostalgiker in uns hat zwischen den Jahren aber auch eine gute Zeit. Er darf allüberall auf ganz unterschiedliche Weise erfahren, welche Alben den unterschiedlichsten Menschen im vergangenen Jahr 2019 am besten gefallen haben. Welche für sie wichtig waren, welche für sie Mauern eingerissen haben, neue Welten eröffneten oder sie mal himmelhochjauchzend in die Luft schweben oder zu Tode betrübt an den Sessel fesselten, einfach weil sie zum richtigen Zeitpunkt im richtigen Ohr waren. Das schafft auf diese Weise immer noch nur die Musik. Danke dafür! Damenundherren, lesen Sie über die 30 Lieblingsplatten von Nillson.de und beginnen Sie damit: Jetzt.

Platz 30: Jens Friebe - Fuck Penetration

Auf seiner Tour zum Album verfolgte der beinahe schon ewige Jens Friebe das Konzept, einem Klassiker jeweils eines der neuen Stücke vom (mal wieder obskur betitelten) „Fuck Penetration“ folgen zu lassen. Dass das so gut funktionierte, zeigte erstens, wie zeitlos (und wie zeitlos gut!) Friebe immer noch Songs schreibt und vor allem textet. Und zweitens, einmal mehr, wie gut Sloganhaftigkeit sein kann, wenn sie aus der richtigen Feder kommt. Allein schon Songtitel wie „Es leben die Drogen“, „Only Because You’re Jealous Doesn’t Mean You’re In Love“ oder „Call Me Queer“ - bei Jens Friebe passt immer noch jeder Stein auf den anderen, sogar bei der völlig verqueren Poetry-Slam-Mittelerde-Drogenphantasie „Herr der Ringe“.

Platz 29: Jungstötter - Love Is

Fabian Altstötter spaltete sich von seiner Hauptband Sizarr ab und veröffentlichte Anfang des Jahres ein wunderbares Pop-Album unter dem Moniker Jungstötter. Dabei klingt er vor allem unglaublich reif: Wo schon die Verspieltheit Sizarrs immer eine besondere Versiertheit bewies, erweckt Jungstötters dunkler, leicht angejazzter Samtpop das Bild eines introvertierten jungen Mannes, der die elektrifizierte Zappeligkeit seiner Band hinter sich gelassen hat und sich im Stillen seinen Beobachtungen und Selbstzweifeln hingibt. Höchst stilvoll fließt dieses Album wie aus einem Guss durch die Nacht; das ist Musik, die großen Bühnen nicht steht, sondern die Intimität zelebriert und mit halbgeschlossenen Augen gehört werden will.

Platz 28: Pedro The Lion - Phoenix

Wie der titelgebende Phoenix aus der Asche tauchte 2019 plötzlich David Bazan, der seine Band Pedro The Lion bereits 2006 in die Annalen geschickt hatte, wieder auf dem Radar auf. Nichts seit dem Split war wirklich besser für ihn geworden, nichts hatte sich je wieder so real angefühlt wie das Schreiben von Songs unter diesem allseits geschätzten Moniker, und so kehrte er genau dazu zurück (nicht aber zur originalen Bandbesetzung) und schrieb wieder wunderbare Songs. Es kann so einfach sein. „Phoenix“ präsentiert einen gereiften David Bazan, der die gute Schule nicht vergessen hat und mal feines Storytelling („Yellow Bike“), dann wieder famosen Indierock („Clean Up“) aufbietet. Es ist kein glamouröses, gefeiertes Comeback geworden - es ist einfach „nur“ schön, dass es Pedro The Lion plötzlich wieder gibt.

Platz 27: Spielbergs - This Is Not The End

Die Spielbergs aus Norwegen haben in „This Is Not The End“ eine grandiose Rockplatte an den Start gebracht, die sich weder um Nachhaltigkeit, noch um Szene-Manierismen jedweder Natur. Und weil die Bandmitglieder in ihren Mittdreißigern stehen, brauchen sie auch nicht mehr Teil einer Jugendbewegung sein, sondern können auf ihrem Erstlingswerk (!) einfach machen, was sie wollen. Für den guten Moment, für die Faust im Himmel. Warum auch nicht? Zwischen Lo Fi-Indierock der 90er-Schule, Rampensau’n’Roll à la Japandroids und treibendem Emo-Pop bauen sich diese Herren ihr Zelt auf und hauen einfach ein paar Hits raus. „Five On It“ ist der beste von ihnen. Ob wir von dieser Band in Zukunft noch was hören? Es ist auf die bestmögliche Weise herrlich egal.

Platz 26: Say Anything - Oliver Appropriate

„Our new records is done and it’s called OLIVER APPROPRIATE. Our plans as a collective are to, kind of sort, end Say Anything. I need a break. We’ll return one day to play festivals and scoff at our career. But I want to say goodbye“. Das ist das Statement von Maxim Adam Bernis zur Lage seiner Band Say Anything im Jahr 2019, die Presseinfo beginnt damit. Man merkt, wie viel Kraft ihn dieses Album gekostet hat, ein durch und durch kathatisches Emo-Prachtwerk zwischen Drogenmissbrauch und Suche nach Selbstliebe. Maxim Bernis ist am Ende, mit der Band ist Schluss, wir sind Zeuge. Ein spannendes Album, ein grandioser Schlusspunkt - verbunden mit der Hoffnung, dass Maxim Bernis zu sich findet und irgendwann gestärkt zurück kommt.

Platz 25: Moritz Krämer - Ich hab einen Vertrag unterschrieben 1 & 2

Das zweite Moritz Krämer-Vollwerk hat acht Jahre gebraucht, und der unfassbare Vorgänger „Wir können nichts dafür“ hatte die Erwartungen immens werden lassen. Ein weiteres solches Manifest des Schwermuts im zweiteiligen „Ich hab einen Vertrag unterschrieben“ zu vermuten, konnte nur vermessen sein, und tatsächlich nimmt es einen anderen Weg, philosophiert eher als dass es beobachtet, stellt Fragen und lässt sich in seinen Aussagen sehr unterschiedlich lesen, was dafür spricht, wie vielschichtig die lyrische Kunst eines Moritz Krämer ist und welche Tragweite sie hat. Die Verträge, die wir im Leben schließen, sind nicht immer gut für uns, so viel ist uns klar. Beim Auseinanderklamüsern von richtig und falsch gibt es kaum einen besseren Partner als den großartigen Moritz.

Platz 24: black midi - Schlagenheim

Eines der spannendsten Alben des Jahres, aber auch eine kleine Herausforderung, denn diese jungen Briten entziehen sich wirklich äußerst selbstbewusst den gängigen Songstrukturen und ersetzen sie durch mitreißenden Experimentalismus, aufrührerische Ruhe- und Rastlosigkeit, Lärm und enorme Spielfreude. Nicht leicht zu erarbeiten, aber endlich mal wieder ein Album, das man mit einem entgeisterten „Alter!“ einfach direkt wieder hören will, nein, muss. „Schlagenheim“ ist vielleicht die jugendlich leichtsinnige und gleichermaßen ambitionierte Rockplatte, die es lange nicht gab und die heiß erwartet wurde, zumal in Zeiten der immer größer werdenden Gleichschaltung. Eine kleine Offenbarung für alle, die sich dieser Musik stellen. Es gibt nichts zu bereuen.

Platz 23: Altin Gün - Gece

Im vergangenen Jahr gehörte Altin Gün noch die Spitze dieser Jahrescharts, ihr Nachfolgewerk „Gece“, veröffentlicht nun übrigens nicht mehr bei Bongo Joe, sondern auf dem famosen Glitterbeat-Label, schafft immerhin noch die Top 30. Viel hat sich nicht getan bei den Holländern, die nach wie vor auf höchst zwingende und mitreißende Weise türkische Folklore mit Psychedelic, Funk und Indiepop vermischen und damit kein Bein ruhig stehen lassen. Auch „Gece“ ist in seiner Spielfreude wieder über die Maßen tanzbar und musiktheoretisch hochinteressant, eine konsequente Steigerung zur Debüt-LP „On“, mit der ich allerdings noch so beschäftigt bin, dass die Platte nach meinem Dafürhalten vielleicht etwas zu schnell nachgereicht wurde. Sei’s drum: Super Band, super Album.

Platz 22: Diego Lorenzini - De Algo Hay Que Morir

Erlend Oyes dezente Verweise auf die Menschen, die musikalisch derzeit mit ihm sind (dazu gehört nicht nur seine neue Backing Band La Comitiva aus Italien, sondern auch etliche Mitstreiter, die er auf seinen Südamerika-Reisen kennen und schätzen gelernt hat) öffnen nicht nur die Augen für die Versiertheit seiner neuen Kollegen, sondern auch für deren Solo-Output. Wie vom Kopf des chilenischen Künstlerkollektivs Uva Robot, Diego Lorenzini, dessen rein auf Gitarre und Stimme reduziertes, wunderschön intimes „De Algo Hay Que Morir“ (zu übersetzen mit „Etwas muss sterben“) zu den schönsten Songwriter-Platten des Jahres gehört und, weil bei Uva Robot nur Künstler veröffentlichen, die von ihrer Musik nicht leben müssen, komplett kostenfrei zu haben ist.

Platz 21: anthène - Weightless

Man könnte meinen, es wäre für Ambient-Musiker generell ein Leichtes, eine Atmosphäre von absoluter Leichtigkeit zu erzeugen, aber so ist es nicht. Da gehört schon ein gewisses Fingerspitzengefühl dazu, und anthène, die bei dem famosen kanadischen Label Moderna Records in Gesellschaft von weiteren tollen Genre-Künstlern wie Snorri Hallgrimsson oder Daigo Hanada veröffentlichen, haben mit „Weightless“ die Blaupause für Schwerelosigkeit vorgelegt. Es passiert nicht nur in Augen von Laien sehr wenig auf diesem Album; für die winzigen Changierungen und Tonwechsel in diesen dystopischen und zugleich wunderschönen Ambient-Drones auf „Weightless“ braucht man Zeit und ein offenes Ohr, aber das Schwebegefühl währenddessen ist unvergleichlich.

Platz 20: Bror Gunnar Jansson - They Found My Body In A Bag

Wahnsinniger Typ, dieser Schwede. Bror Gunnar Jansson ist einer der Künstler, die man live erlebt haben muss um zu glauben, dass es sie gibt. Eine One Man Band, kann alles spielen und tut es auch, zumeist gleichzeitig. Würde sich dieses Konzept auf eine Platte übertragen lassen? Da hatte ich meine Zweifel, und die sind nicht unberechtigt, weil „They Found My Body In A Bag“ vor allem stark Lo-Fi dargebotenen, reichlich dreckigen Bluesrock bietet, den man in dieser Form sicher nicht zum ersten Mal und auch schon woanders besser gehört hat, aber: Die Dringlichkeit, die Jansson in seinen Songs entwickelt, die Kraft und die Energie, können nicht kalt lassen, und wenn das Album vor allem als Ergänzung zur Strahlkraft seiner Live-Performances funktionert, so ist es doch eine gute.

Platz 19: Black Pumas - Black Pumas

Schön zu sehen, wie sehr sich gute Soulmusik wieder in den Gehörgängen von Leuten einnistet, die per se nicht viel damit anfangen können. „Black Pumas“ ist ein im besten Sinne retrospektives Album, das vielleicht als Türöffner für die Epigonen dieses Genres funktionieren kann. Dabei lebt es nicht von seiner eindeutigen Orientierung an den 60ern und 70ern, sondern auch von der Idee, wie dieser Sound ins Jetzt übertragen klingen kann. Darum ist auch Platz für gediegenen Fuzz, straighte Gitarrenriffs und knackige Hip Hop Beats, die hier aber nie für sich allein stehen, sondern sich in einen faszinierend brodelnden Sound einfügen, mit dem die Black Pumas im vergangenen Jahr einen überaus wertvollen Beitrag zum Revival eingereicht haben.

Platz 18: Holy Fawn - Death Spells

Wo Sigur Rós sich albumtechnisch nach wie vor bedeckt halten und andere Bands und Vertreter aus den Bereichen Postrock bzw. Postmetal und Doom sich häufig den Gesang und somit ein zentrales Element der Äußerung tiefster Verweiflung schenken, kam auf einmal mit Holy Fawn eine wunderbare Zwischenlösung um die Ecke, die rückwirkend betrachtet doch so viel mehr war als bloß das. Die Vocals sind nicht ganz so weltfern wie die eines Jon Birgisson, aber doch ähnlich instrumentengleich, schwebend und rauschend inmitten all dieser Noise-Ausbrüche und zerbrechlichen Passagen. Große, epische Phrasen, viel Distortion und in sich ruhende Ambient-Flächen ergeben auf „Death Spells“ eine emotionale Tour de Force, die einen sofort in ihren Bann zieht.

Platz 17: Murkage Dave - Murkage Dave Changed My Life

Der bärtige Hüne machte schon länger mit Mike Skinner von The Streets gemeinsame Sache und bereicherte mit ihm zusammen das Projekt Tonga Balloon Gang, arbeitete parallel dazu aber auch an seinem ersten eigenen Vollwerk namens „Murkage Dave Changed My Life“ - die scheinbare Hybris ist allerdings eher doppeldeutig zu verstehen. Als Support Act auf Skinners Deutschland-Tour brachte er seinen Mix aus britisch geprägtem Hiphop, Soul und R’n’B erstmals auf deutsche Bühnen und faszinierte vor allem mit einem unglaublich zurückgelehnten Flow und entspannten Beats. Auf der Platte gibt sich Murkage Dave selbstreflektiver, als der Titel auf den ersten Blick vermuten lässt - es geht eher um eine Bilanzierung von Daves life so far, die nichts verherrlicht, aber mit Gelassenheit und Selbstsicherheit durchaus in sich ruht.

Platz 16: Vampire Weekend - Father Of The Bride

Einige Jahre Pause später und Vampire Weekend sind mit einem Paukenschlag zurück. Das 16 Songs starke „Father Of The Bride“ ließ Ezra Koenig und seine Jungs mit Trommelwirbel und Scheinwerfern zurückkehren - nach wie vor stark am Zeitgeist vorbei und Paul Simons „Graceland“ immer noch zum Teil sklavisch unterworfen, aber eben mit solcher Herrlichkeit, gleichzeitig jubilierend und erdig und wunderbar leicht. Die Single „Harmony Hall“ ist ein Song, den man als Songwriter beneiden muss; ein so schönes Stück hat im vergangenen Jahr kaum ein anderer zustande bekommen: Sixties Folk, Afrobeat, Funk, ein ganz wenig Psychedelik und immer gerade richtig viel Pop bilden eine Mitte, die Vampire Weekend immer noch niemand so leicht nachmacht und deren grandiose Exhaltiertheit überhaupt keine Wünsche offen lässt.

Platz 15: YIN YIN - The Rabbit That Hunts Tigers

Eine der Bandentdeckungen des Jahres: YIN YIN kommen aus den Niederlanden und veröffentlichen bei Bongo Joe, wo auch unsere 2018er-Nummer 1 von Altin Gün erschienen ist. Mit denen hat man bei YIN YIN die Retrospektive gemeinsam, kommt allerdings zum einen völlig ohne Gesang aus, zum anderen ist hier nicht die türkische Musikgeschichte Schaffensbasis, sondern südostasiatische Klänge aus den 60ern und 70ern. In Verbindung mit Funk, Indierock und Psychedelic ergibt das einen faszinierend brodelnden Hybriden, dessen Tanzbarkeit beim geneigten Publikum für Floorfiller-Garantie sorgt. Wer sich das schwer vorstellen kann, sollte Tracks wie „Dis ko Dis ko“ oder dem unwiderstehlichen „One Inch Punch“ ein Ohr schenken. YIN YIN kann man auch 2020 noch für sich entdecken.

Platz 14: Tiny Ruins - Olympic Girls

Die wunderbare Neuseeländerin Holly Fulbrook gehört zu den weiblichen Interpreten, deren Stimme man so gerne verfällt, ein ums andere Mal. Weil sie sich im Veröffentlichungsrhythmus ihrer Alben den nötigen Raum lässt, ist ein Wiederhören immer umso schöner. Auf „Olympic Girls“ ist Fulbrook im Bandsound angekommen, was angesichts der fünf Jahre, die seit ihrer letzten und sehr reduzierten LP vergangen sind, zunächst wie eine Flucht nach vorne wirkt - das wundervolle Songwriting der Dame ist aber noch erhabener geworden, und trotz eines ausladenderen Instrumentariums wirken die Songs von Tiny Ruins immer noch sehr introspektiv, innig und zärtlich, mit unwiderstehlichen 60s-Folk-Referenzen und Fulbrooks wunderbarer Mädchen-von-nebenan-Stimme.

Platz 13: Die höchste Eisenbahn - Ich glaub dir alles

Die höchste Eisenbahn wird einfach immer besser. Die Supergroup mit Moritz Krämer und Francesco Wilking an der Hauptfeder und den Größen Max Martin Schröder und Felix Weigt im Rücken arrangiert ihre Musik von Mal zu Mal versierter und großflächiger, breiter, spielfreudiger. Gleich, ob die von Moritz Krämer hauptverantwortlich gesungenen Songs mir persönlich besser gefallen (wie das wunderbar leichtfüßige „Job“, das durch seine einzigartige Stimme doch so melancholisch wirkt): Diese Band hat einfach so hörbar Bock und weiß inzwischen sehr gut, wozu sie fähig ist, weil jedes Bandmitglied einen guten Erfahrungsschatz an Bands und Einflüssen aufweisen kann und man die Lust, daraus ein pulsierendes Ganzes zu machen, ungebrochen spüren kann.

Platz 12: Bon Iver - i, i

Justin Vernon, dieser Tausendsassa: Kann alles, darf alles. Zurückgenommenen Berghütten-Folk, strahlende Opulenz und kryptischen Krautpop. „i, i“, das vierte Album unter seinem Alter Ego Bon Iver, wirkt da wie eine Art Zusammenfassung des bisherigen Schaffens, und wenn man die vier Alben Bon Ivers mit Jahreszeiten vergleicht, so ist „i, i“ der Herbst. Hier ist es zuweilen schon erstmals wieder verdammt kalt, aber an anderen Tagen eben auch strahlend, bunt und sonnig. Folk, Pop, R’n’B und Nischensounds geben sich die Klinke in die Hand und verbinden sich insgesamt zu einem in Teilen überraschend zugänglichen Ganzen, höchst stilvoll und mit faszinierender Brillanz zusammengestellt zu einem Album, das ohne klare Höhepunkte auskommen darf, weil es sein Konzept nur in voller Länge ganz und gar entwickelt.

Platz 11: Niels Frevert - Putzlicht

Alben von Niels Frevert sind eine seltene Herrlichkeit, und je älter der Mann wird, desto weiser hört er sich an: Auch wenn er dank seines eher sporadischen Outputs gegenüber anderen deutschsprachigen Songwritern (oder Liedermachern, wenn man so will) scheinbar ein wenig in den Hintergrund getreten ist, beweist ein Album wie „Putzlicht“, wie sehr er über jeden Zweifel erhaben ist. Ein nach wie vor wahnsinnig wahrhaftiger und großer Texter, Stücke wie „Immer noch die Musik“ braucht die Menschheit einfach. Dass die Platte in diesem Jahr von den Kritikern wie der Hörerschaft gleichermaßen sofort so geliebt wurde, hat sich zu beobachten gut angefühlt. Ein Prachtwerk voller mit sonorer Stimme vorgetragenen Unumstößlichkeiten, ewig und zeitlos, schlicht wunderbar.

Platz 10: The Slow Show - Lust And Learn

Alles wie gehabt bei The Slow Show: Die wunderbar sonore Stimme von Rob Goodwyn, der uns alles erzählen darf, das Spiel mit ruhigen Passagen, elegischen Chören und epischen Steigerungen. So war es auf dem fantastischen Debüt „White Water“ (Platz 1 in den Nillson-Jahrescharts), so war es auf dem sehr guten Nachfolger „Dream Darling“ und so ist es auch auf Album Nummer 3, „Lust And Learn“. Was sich beim zweiten Werk jedoch schon in Teilen etwas abzunutzen schien, erstrahlte dann doch wieder im altbekannten und herrlichen Glanz, denn bei manchen Dingen ist es dann doch gar nicht tragisch, wenn sie sich nicht ändern. Was sollten The Slow Show auch aonst machen? Wer diese Band gern hat, weiß eben, was er bekommt, und das ist eben ein Sound, der nicht viel Entwicklungspotenzial in irgendeine Richtung hat. Songs wie „Sharp Scratch“ sind ein eindrucksvoller Beweis für die ungebrochene Größe der Band aus Manchester. Schon bei der Vorab-Single war alles mit einem Mal wieder da: Die Melancholie, die bis zur Selbstzerfleischung aufopferungsvolle Aufarbeitung der Kämpfe mit den inneren Dämonen auf stilvollste Art und Weise. Das können The Slow Show von mir aus noch ewig so machen, ich werde das wohl immer lieben.

Platz 9: The Murder Capital - When I Have Fears

Zum ersten Mal Dublin in diesen Top 10, über ein weiteres Mal werden wir noch sprechen. The Murder Capital haben vor dem Release ihres ersten Albums „When I Have Fears“ Support gespielt für die Slaves, Shame, Fontaines DC, Idles. Da passen sie gut dazu, aber bei dieser Band besiegt die Melancholie die unbändige Wut, was The Murder Capital eine enorme emotionale Tiefe verpasst, die eher Bands wie den Editors nahe kommt, ohne jedoch deren Tanzbarkeit zu erreichen. The Murder Capital beschwören bedrohliche Szenarien herauf, spielen mit Kontrollverlust und Angst, setzen dem aber keine gebellten Shouts entgegen, sondern mäandern im Sog der eigenen Unbeweglichkeit. Das ist selbstverständlich nicht weniger faszinierend, eben eine andere Reaktion auf die Welt, wie sie gerade leider ist. Angereichert mit Shoegaze-Elementen leben The Murder Capital die Tristesse des eigenen Daseins in vollen Zügen aus und entwickeln durch diese Auseinandersetzungen einen kraftvollen Sound, der schlussendlich das Wiederaufstehen mehr als nur eine Option sein lässt. „Don’t Cling To Life“ transportiert diese Sehnsucht, dass alles wieder gut wird, am prägnantesten und lässt bei all der Kühle des Vortrags auch Raum für Wärme und Menschlichkeit. Ein tolles Album.

Platz 8: Better Oblivion Community Center - Better Oblivion Community Center

Conor Oberst ist eine der wichtigsten Figuren in nicht nur meiner Musiksozialisation, und das bleibt er wohl für immer, auch wenn die glorreichen Bright Eyes-Zeiten lange vorbei sind und all seine bisherigen Solo-Platten nicht nur mich nicht restlos überzeugten (zum Teil sogar überhaupt gar nicht). Weil man alte Helden aber nie ganz loslässt, war die Neugier auf die Kollaboration mit Phoebe Bridgers unter dem Namen Better Oblivion Community Center gegeben und eine Auseinandersetzung Ehrensache, und die Belohnung folgte auf dem Fuß: Dieses Album bietet die besten Songs, die Conor Oberst seit Jahren - vielleicht sogar seit über einem Jahrzehnt - geschrieben hat. Songs in bester Folk- und Americana-Tradition hören wir auf diesem wundervollen Longplayer, und die Verbindung zu Phoebe Bridgers, mit der er hier mehrheitlich im Duett singt und die selbstverständlich ihren Teil zur Klasse dieses Albums beiträgt, tut ihm merklich gut. Nie kitschig oder prätentiös, immer erdig und wahrhaftig klingen diese neuen Songs, aus deren Mitte „Dylan Thomas“ herausragt. Die Teenage Angst liegt hinter Conor Oberst, und er klingt auf „Better Oblivion Community Center“ so aufgeräumt wie nie, und das ist gut so.

Platz 7: Robag Wruhme - Venq Tolep

In sieben Jahren nur eine weitergedachte EP namens „Wuzzelbud FF“: Das geht schon klar aus Sicht von Gabor Schablitzki alias Robag Wruhme, der eben doch in erster Linie ein Live-Entwickler seiner Sounds ist. „Venq Tolep“ war nun aber eine so konsequente Weiterführung des Vorgängers „Thora Vukk“, dass es wirkte, als wäre Wruhme nie weg gewesen. So vieles ist wie immer auf „Venq Tolep“: Die obskure Betitelung von LP und Tracks, die einmal mehr beweist, wie sehr Namen doch Schall und Rauch sind, das große Goodbye im Closing Track der Platte, auf dem diesmal auch mehrere Größen aus Hamburgs Szene das letzte Wort haben dürfen - vor allem aber der fließende, beinahe schon schwebende Elektronik-Sound, der Songgrenzen auf kunstvolle Weise miteinander verwebt und sie dadurch auflöst und obsolet macht. Techno ja, aber so verhuscht, dass es kaum jemandem auffällt. Clubmusik ja, aber nur in den kleinsten Bestandteilen der elf Stücke auf „Venq Tolep“. Ein so genial geschriebenes Elektronik-Ambient-Album, das trotzdem so beiläufig wirkt wie die Aneinanderreihung von musikalischen Skizzen und doch so faszinierend durch die Synapsen fließt, bekommt man wohl wirklich nur alle sieben Jahre hin. Chapeau, Monsieur Gabor!

Platz 6: OVE - Abruzzo

Die Gutelauneplatte des Jahres kommt aus Hamburg, die Idee dahinter ist aber untrennbar mit der Sonne Italiens verbunden, wo „Abruzzo“, das dritte OVE-Album, eigentlich aufgenommen werden sollte. Das kam aus Gründen dann nämlich doch nicht zustande, was zum verbindenden Thema der Songs - das stilvolle Abfailen und der Umgang damit - aber nur passen konnte. Die Platte klingt wie Aperol Spritz im Urlaub, lockerleicht und fluffig, aber auch musikalisch so auf den Punkt durchdacht wie kein OVE-Album davor. Das wichtigste ist aber, dass Ove Thomsen einfach nach wie vor so ein guter Geschichtenerzähler ist. So sommerlich leicht der Sound klingt, so pointiert und dadurch interessant sind die Stories auf „Abruzzo“, von „Annegret und Anders Andersen“ über das sich abgeben an die digitalen Denker in „Zum Download bereit“, die völlig fehlgeschlagene „Nachtwanderung im Süderlügumer Wald“ und einen drogenschwangeren Aussteiger-Tanz ums Lagerfeuer in „Captain Fantastic 2.02“ bis hin zu einer Fahrt auf dem „Fahrrad in der Nacht“, bei der Freundschaft den perfekten Konter auf den Mist, der dir so passieren kann, darstellt. Ein Album, das von vorne bis hinten Spaß macht; ganz ohne Frage das beste OVE-Album bisher.

Platz 5: Hugar - Varda

Es wird zunehmend schwer, über isländische Bands zu schreiben, ohne die gängigen Island-Plattitüden zu bemühen. Dass das Duo Hugar von dieser Insel stammt, kann einem für sie also von daher beinahe schon leidtun, weil sie damit automatisch dem Verdacht anheim fallen, sich in Reproduktionen von dort bekannten Stilmitteln zu ergehen, die nun mal so oft schon in so hoher Qualität dargeboten wurden, dass es unmöglich scheint, der Sache etwas hinzuzufügen. Sicherlich, Hugars erstes Label-Album „Varda“ bemüht viele Assoziationen zu der Musik von Sigur Rós oder Olafur Arnalds, aber das wäre auch von jedem anderen Land aus möglich gewesen. So hat das Duo mit beiden Bands bzw. Künstlern schon zusammengearbeitet, und das war sicherlich prägend für diesen wunderbaren Sound, der zwischen Postrock-Eruptionen, Ambient-Flächen und der großen, bläserschwangeren Folk-Geste eine enorme Klasse aufweist. Mal sphärisch und elegisch, dann wieder breitwandig und fordernd: Egal, woher eine Platte wie „Varda“ stammt, manchmal braucht man platten wie diese. Hugar erreichen aber auch majestätische Opulenzphasen wie man sie von Explosions In The Sky kennt und schwerelose Schwebezustände wie Hammock - so viel gute Einflüsse können einfach nicht verkehrt sein, und so bleibt „Varda“ vor allem eine überwältigend grandiose Platte, Querverweise hin, eventuelle Reproduktionen her.

Platz 4: Leif Vollebekk - New Ways

Immer noch eine der schönsten Entdeckungen der letzten Jahre ist der Kanadier Leif Vollebekk, dessen drittes Werk „New Ways“ den aktuellsten Eintrag in dieser Bestenliste markiert; es ist immerhin erst im November erschienen. Der Vorgänger „Twin Solitude“ gereichte vor zwei Jahren glatt zur Nummer 1 bei Nillson. Und nach wie vor fällt es nicht schwer, diesen Typen ins Herz zu schließen: Die dezent angejazzten Folk-Weisen, die leicht nasale Stimme und die unüberhörbaren Dylan-Referenzen sprechen nach wie vor für sich. „New Ways“ macht abermals alles richtig und steht wohl nur durch den Verlust des Überraschungseffekts und der starken Konkurrenz hier nicht höher. Aber auch das dritte Vollebekk-Vollwerk ist ein prächtiges Sammelsurium aus Folk, Americana, Blues und Jazz, nicht minder introvertiert als der Vorgänger, aber noch ein klein wenig zupackender vielleicht. Auf dem Opener „The Way That You Feel“ beschwört Leif Vollebekk diese samtene Nachtschwärze herauf, die ich so sehr schätze an Musik; die Weisheit seiner Texte, denen man einfach so gerne zuhört, hat ein weiteres Mal etwas überaus beruhigendes und zeitgleich erhabenes. Zutiefst in sich ruhende kleine Hymnen mit der Weisheit eines prallen Erfahrungsschatzes und der Souveränität eines zum Rasten gekommenen Rastlosen - das ist fantastisch mitzuerleben.

Platz 3: Fontaines DC - Dogrel

Was für eine fantastische Band, nicht aus Großbritannien, sondern aus Irland, aber klanglich definitiv in der gleichen Liga wie die Idles, wie Shame oder all die anderen starken neuen Bands von der Insel Fontaines DC haben mit „Dogrel“ fraglos eines der großartigsten Alben des Jahres veröffentlicht, tief verwurzelt in Punk und Postpunk, wütend und emotional aufgeladen, dabei außerdem geerdet und düster. „Dublin in the rain is mine, a pregnant city with a catholic mind“, ein Ort, den man gleichzeitig liebt und verflucht, der einen mit seinem ständigen Regen fertig macht und von dem man nicht lassen kann, mit dem man sich auseinandersetzen muss, auch wenn es weh tut. Diese Band zelebriert den inneren Zwist mit ihrer Heimatstadt und wir dürfen ihr dabei zuhören. Die Songs brauchen nicht einmal viel Zeit um kraftvoll zu sein und nachzuwirken, „Big“ dauert nur knapp zwei Minuten, bei „Sha Sha Sha“ sind es zweieinhalb, „Television Screen“ wirkt mit fast vier Minuten fast schon exorbitant lang. „Dogrel“ und seine bissigen Momentaufnahmen rütteln auf und durch, sind Sprachrohr und Projektionsfläche. Aber, und das soll auch nicht verschwiegen werden: Die Band kleidet ihre Wut in ein außerordentlich packendes und mitreißendes musikalisches Korsett. Musst du erstmal so hinkriegen.

Platz 2: A Winged Victory For The Sullen - The Undivided Five

Jedes Album sein eigener Soundtrack, selbst wenn es in Wirklichkeit gar keine Untermalung eines filmischen Prachtwerks oder eines Bühnenstücks darstellt: Das schaffen in dieser Form und Klasse nur Adam Wiltzie und Dustin O’Halloran, deren gemeinsamen Namen A Winged Victory For The Sullen immer noch nicht genug Menschen auf diesem Planeten vollpräsent haben. Ob sie nun wie auf „Atomos“ ein Ballett vertonen oder mit „Iris“ tatsächlich einen Film: Was dieses Duo zu cineastischem Breitwand-Sound, Elektronik, Klassik und Ambient beizutragen hat, ist Mal für mal so deartig überwältigend, dass man Gänsehaut bekommt, wenn man nur den Namen liest. Der Musikexpress schrieb treffend in seiner Review zu „The Undivided Five“, diese Musik sei in der Lage, Bilder größer und bedeutender werden zu lassen und Emotionen zu potenzieren, und das ist die Wahrheit. Wenn Filmemacher zu diesem Sound keine vorgefertigten Bilder anbieten, dann sind es die, die in uns arbeiten und wirken, die Szenen aus unserer Vergangenheit oder einer noch diffusen Zukunft vor unserem inneren Auge ablaufen lassen, orchestriert und untermalt auf treffendste Weise von Wiltzie und O’Halloran. „The Undivided Five“ ist voller wunderbarer Momente. Die Streicher auf „Our Lord Debussy“, die Drones, die sich schließlich in majestätische Opulenz ergießen, oder das abschließende introspektive Piano-Stück „Keep It Dark, Deutschland“ - dieses Album ist ein Meisterwerk, nicht mehr und nicht weniger.

Platz 1: Carlos Cipa - Retronyms

Der Münchner Carlos Cipa hat bisher zwei wunderbare Klavieralben bei Denovali Records veröffentlicht. Dazu eine schon merkbar experimentellere, den Purismus der Vollwerke aufbrechende EP gemeinsam mit Sophia Jani und eine zwischen Jazz und technoiden Soundscapes mäandernde mit dem Elektronik-Produzenten Occupanther. Nun zu behaupten, sein drittes Album „Retronyms“ sei eine konsequente Weiterentwicklung von Cipas künstlerischen Schaffen, wäre falsch: Es ist mehr ein eingelöstes Versprechen. Denn so vielschichtig, so versiert und so ungemein reizvoll hatte ich dieses Album nicht erwartet. Nein, „Retronyms“ ist ein Meisterwerk geworden, das im Jahr 2019 nicht übertroffen werden konnte - das fand ich zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung und finde es noch. Gleichzeitig ist das Vertrauen in den Künstler Carlos Cipa aber auch gewachsen, die Neugier auf mehr gestiegen, das Glück über dieses Prachtwerk von Album ungebrochen. Der atonale Posaunen-Einstieg mit „Fanfare“, die gedämpften Klavierklänge auf „Senna’s Joy“, bei dem die Bläser nun dezent angejazzt klingen, die düster-nebelverhangene Szenerie auf „awbsmi“ mit surreal-verfremdeten Streichern, das wundersam leichte, erlösende „Slide“ mit wundervollen, betörend hoffnungsfrohen Gitarrenläufen, der Übergang zu den dystopischen Drones auf „Dark Tree“ und die finale Improvisation des Closers „Paon“, die klangliche und fühlbare Quintessenz dieses Albums: So melancholisch und detailverliebt, so hoffnungsvoll und gleichsam introvertiert, so kunstvoll und leicht war in diesem Jahr keine andere Platte. So gerne bin ich dieser Reise gefolgt und folge ihr noch, weil diese Vielfalt gar nicht zu verpacken ist in drei, fünf, zehn Hördurchläufen. Wie hier Strukturen aufgebrochen, erweitert, neu gedacht werden, das ist ein Faszinosum; ein eindrucksvoller Beweis dafür, was mit klassizistischen Ordnungen getan werden kann, wenn der Horizont breiter gemacht wird und Ergänzungen aus zeitgenössischer Musik ein Zugang zu minimalistischen Klangwelten geschaffen wird. Ein klangliches Wunderwerk, suggestiv, experimentell, zuweilen hörbar dem Moment verschrieben, dann wieder mit überwältigendem Weitblick. Und damit vollkommen hochverdient die Nillson-Platte des Jahres 2019.



Texte: Kristof Beuthner