Artikel 11.06.2019

Keinesorgen, Jr.: Nichts bleibt zuhausiger als das! Nillson beim Orange Blossom Special 2019

Das Orange Blossom Special ist wie eine Insel für uns, die wir gelernt haben, dass nur wenig besser funktioniert, als die Akkus hier mit so viel Liebe, Freundschaft und Wahrhaftigkeit aufzuladen, dass wir wieder ein Jahr lang für die kalte Welt da draußen haushalten können. Dass diese Insel nicht sinkt, ist eine der besten Gewissheiten dieses Wochenendes, und all die anderen Geschichten möchte ich euch auch gerne erzählen.

Wie fängt man an, von einem Wochenende zu erzählen, das wieder einmal so belohnend war für die Unbill des Alltags, so ergreifend und gemeinschaftlich empfunden wunderschön, dass die Eindrücke immer noch im Kopf rauf und runter laufen, wie ein Film, der die besten Szenen des Jahres in Endlosschleife aneinander reiht und einfach nicht anhalten möchte? Wie unrealistisch und seltsam es jedes Jahr aufs Neue ist, nach Hause zu kommen; es ist schließlich immer noch Feiertag, und die Welt um uns herum scheint immer noch im Pfingstschlummer zu liegen, lethargisch irgendwie, entspannt, aber eben auch so, als wundere sie sich über uns, die sich plötzlich wieder in Bewegung befinden; fast so, als wolle sie uns sagen: Warum kommst du schon wieder zurück? Die Zeit steht doch noch immer still rund um uns! Es ist noch nicht soweit!

Drei Tage lang waren all die Dinge, die uns aufwühlen und uns lähmen, nicht unser Problem, sondern Deinesorgen, jr., und die Einigkeit darüber, dass man all den Unfug, den der seltsame Apparat namens Leben mit uns treiben möchte, nirgendwo besser von sich schieben kann als im Glitterhouse-Garten in Beverungen, lag wieder wie ein wärmender Schal über unser aller Schultern. Nicht, dass wir bei dem tollen Wetter einen Schal gebraucht hätten, aber die Verbindung, die unser Lieblingsfestival jedes Jahr von neuem in uns weckt, obwohl wir uns eigentlich gar nicht richtig kennen, nimmt uns vom ersten Schritt an ein, mit dem wir den Grünen Weg betreten. Nichts ist zuhausiger als das, so viel ist sicher, und es funktioniert von einer Sekunde auf die andere, verlässlich und behaglich wie eine Höhle im Gewitter, in der ein Kronleuchter strahlt, und bald schon strahlen wir auch und vergessen, was wir gerade nicht brauchen. Das Orange Blossom Special kann das. Das wissen wir.

Das Motto „Deinesorgen Jr.“ ist dadurch in diesem Jahr so viel mehr als die falsche Aussprache einer gewissen Lieblingsband. All das, was draußen wartet, während wir Musik hören, uns über ein Wiedersehen freuen, nach Platten stöbern, Mini-Calzone essen, Rabbitshirts kaufen, Fotos in der Polabox machen oder einfach nur bei einem oder mehreren Kaltgetränken da sitzen und die Sonne genießen, soll eben für drei Tage unsere Sorge nicht sein; es sind Deinesorgen, jr., und es schwingt auch ein wenig Mitgefühl in diesem Satz mit, denn ein Festival wie das Orange Blossom Special würde nicht wenigen gut tun, die da draußen herumlaufen und nicht verstanden haben, wie schön das Leben ist, wenn man gut zu einander sein kann, Arm in Arm neue Lieblingsbands entdeckt und die Welt für ein paar Tage ausknipst. Die gute Nachricht ist, dass in diesem Jahr sogar noch einmal gut 400 Menschen mehr in den Genuss dieses „Hope & Anchor“-Gefühls kommen durften, 400 mehr also, die dieses Gefühl jetzt in die Welt hinaustragen und anderen davon erzählen können, bis sie sich fühlen, als seien sie selbst dabei gewesen. Das mag ein kitschiger Gedanke sein, aber auch ein schöner, ohne Frage.

Rembert Stiewe, der während des letzten Jahres in einer nervenaufreibenden Zwangsversteigerung die ehrwürdige Glitterhouse-Villa erstehen konnte und die Zukunft des Orange Blossom Special somit gesichert hat, dürfte dieses Gefühl in diesem Jahr besonders genossen haben. Seinesorgen, jr. waren, ohne dass wir das so präsent hatten, auch Unseresorgen, jr., ohne dass wir das allzu präsent auf dem Schirm hatten. Die Erleichterung, dass das OBS eine Zukunft hat, lässt uns angesichts der Tatsache, dass es auch hätte schlimmer kommen können, kurz schlucken. Es wäre nicht auszumalen gewesen.

Durch den neuen Pachtvertrag, den er für das Gelände, das wir liebevoll den Garten nennen, abgeschlossen hat, war eine Erweiterung des Areals unausweichlich. Dadurch befinden sich in diesem Jahr die Essensstände auf einem Schotterplatz, der ein bißchen wirkt, als wäre er oben an das ursprüngliche Gelände „angeklebt“. Das entpuppt sich aber als eine der schönsten Neuerungen dieses Jahres, und weil das Orange Blossom Special sich neuerdings ebenfalls rühmen darf, den höchsten Schnitt an Sitzgelegenheiten pro Festivalbesucher aufzubieten, wird die „Ess-Ecke“ zu einem Place to be für die, die mal einen Moment lang Ruhe brauchen. Nirgends kann man nun netter beisammen sitzen und sich austauschen, während man wahlweise Thai-Curry, indische Pakoras, Bratkartoffeln mit Pilzrahmsoße oder eben die vielbesungene Mini-Calzone verspeist; das macht das Runterkommen noch ein großes Stück leichter. Und bei aller Skepsis, die ich bezüglich der doch deutlichen Aufstockung an Festivaltickets vorab hatte: Die Menschenmengen verteilen sich gut, vor der Bühne wirkt es sogar noch entspannter als in den Vorjahren, und Meinesorgen, jr. lösen sich in Wohlgefallen auf.

Anderesorgen, jr. haben Rembert und seine Crew, die nebenbei bemerkt wieder übermenschliche Arbeit leistet um die Abläufe hinter und vor der Bühne so unkompliziert wie möglich zu gestalten, aber gleich am Freitag: Auch wenn die Sonne zur Begrüßung scheint und alles friedlich und entspannt wirkt, zieht eine Gewitterfront herauf, und es muss schon früh davor gewarnt werden, die Zelte an der Weser zu sichern, weil diese sonst mühelos bis nach Hameln fliegen. Während die Yawpers das Festival energiereich eröffnen, die unglaubliche Angie McMahon, die wir uns ganz dringend mit Wolken auf unserem Zettel umranden müssen, mit ihrem Wunder von Stimme ein unheimlich inniges Konzert spielt und Linn Koch-Emmery zwar durch eine solide Performance, nicht aber durch einen übermäßig guten Draht zum Publikum punktet, hängt Rembert an der Funke, versammelt Katastrophen- und Brandschutz um sich und macht sich zusammen mit seinem Team auf das Unvermeidliche bereit. OBS-Mitarbeiter in gelben Warnwesten begeben sich hinaus auf den Campingplatz, markieren den Weg zur Rettungshalle - hat ja keiner gedacht, dass man die wirklich brauchen würde! - und warten auf den Einbruch des Himmels.

Und der kommt, mit dicken Tropfen, grellen Blitzen und grollendem Donner. Was für einen Ostfriesen wie mich als „büschn Wind“ durchgehen mag, fetzt auf dem Festivalgelände satte fünf Pavillons kaputt und tränkt die Wege in kürzester Zeit mit ozeanesken Pfützen. Leidtragender Künstler ist unglücklicherweise der großartige Sinkane: Erst dauert sein Soundcheck sehr lange, dann muss er sein Set schon nach wenigen Songs abbrechen, sehr zum Leidwesen der wenigen Unverdrossenen, die mitten im Gewitter trotzdem vor der Bühne tanzen und genießen. Der gute alte Festival-Spirit. Die Stimmung in der Halle ist gut, die Menschen arrangieren sich schnell mit der Situation und geben ihre letzten Akku-Striche her, um zu guten Songs aus den Handy-Speakern zu tanzen. Der Weltuntergang geht vorüber, zu Adam Angst sind alle wieder da, aber seltsamerweise endet der Festival-Freitag selbst mit temporärem Aussitzen viel zu schnell.

Am Samstag wirkt es, als sei nichts gewesen. Nur der zertrampelte Rasen vor der Hauptbühne erzählt noch die Geschichte eines Unwetters, und es weht eine steife Brise über den Glitterhouse-Garten hinweg. Während Suzan Köcher’s Suprafon, die spontan für die verhinderte Laurel eingesprungen sind, ein absolut mitreißendes Konzert zum Auftakt des Tages spielt, bringt ein Bus den jüngsten und größten Walking Act in der 23jährigen OBS-Geschichte nach Beverungen. Die Tiny Wolves, mein Kinderchor, der sich von der Hinrich-Wolff-Schule aus dem niedersächsischen Bergen aus aufgemacht hat, um eine unvergessliche Geschichte zu erzählen, fallen müde von der langen Fahrt, aber unglaublich aufgeregt aus ihren Sitzen und ahnen noch nicht, wie viel Liebe ihnen heute entgegen strahlen wird. Nach einem wirklich schönen ersten Gig auf dem Campingplatz, bei dem diese 50 kleinen Menschen, 8 bis 11 Jahre sind sie alt, mit Songs von Toto, Oasis oder Marteria zum ersten Mal für Staunen sorgen, folgt der große Moment auf der Hauptbühne. Als wir die Rampe rechts von der Bühne empor klettern, trauen wir unseren Augen nicht: Der Garten ist bis in die letzte Reihe prallvoll, tosender Applaus brandet uns entgegen, und die Kinder wissen gar nicht recht, wie ihnen geschieht.

Als Rembert Stiewe ankündigt, dass die Tiny Wolves in Kürze ihre erste Single via Glitterhouse Records veröffentlichen werden - „Sie haben einen Vertrag unterschrieben - jetzt hab ich euch!“ - folgt die nächste Welle. Was für ein unglaublicher Tag. Die Tiny Wolves spielen zwei Songs, Tom Pettys „Free Fallin‘“ und „Denkmal“ von Wir sind Helden, und auch für mich ist es unglaublich aufregend und ergreifend zugleich, zu sehen, mit wieviel Mut diese Kinder dort oben vor all diesen Leuten stehen und diese wunderschönen Songs singen; zu realisieren, wie sehr sich unsere Arbeit für diesen Moment gelohnt hat; zu spüren, wie sich die Ergriffenheit des Publikums mehr und mehr auf die Kinder überträgt; zu fühlen, wie ihnen klar wird, dass all diese großartigen Menschen vor der Bühne gerade nur wegen ihnen dort stehen, und die Herzen fliegen ihnen zu. Es ist andächtig und still im Glitterhouse-Garten während dieser zwei Stücke, so still wie wohl noch nie in 23 Jahren Orange Blossom Special, erfahre ich später von einigen. Aber als die Songs zu Ende sind, will der Applaus nicht enden, und ich bin so voll von Dankbarkeit und Stolz auf diese Kinder, dass ich platzen könnte. 

Es fließen Tränen der Rührung im Garten und vor der Bühne, es ist ein unvergesslicher Moment, und meine 50 Lieblingsmenschen stehen da und wissen gar nicht recht, wohin mit ihren Händen und ihren Augen. Aber als wir die Bühne verlassen, ist ihnen die Größe des Augenblicks plötzlich klar, auch wenn keiner die passenden Worte dafür findet; einem Jungen laufen unaufhörlich Tränen übers Gesicht, aber er strahlt dabei und kann nicht fassen, dass er das gerade erlebt hat. Die Kinder umarmen sich, gleichzeitig überglücklich und fassungslos: Es war so schön. Nach zwei weiteren Walking Gigs bei den Essensständen und vor dem großen Deinesorgen Jr.-Logo am Ausgang ist die Müdigkeit nicht mehr wegzuschieben, sind die Eindrücke so groß wie die Zufriedenheit, die wir alle empfinden, dass es uns übermannt. Und trotzdem schaffen sie es, dass am Ende die ganze Straße lauthals „Wonderwall“ mitsingt. Ich kenne 50 kleine Menschen, die in dieser Nacht gut schlafen werden, und bin jedem einzelnen, der so gut zu ihnen war an diesem Tag, über die Maßen dankbar.

Unterdessen sorgen die Holländer von Lewsberg für einen höchst interessanten und in jeder Hinsicht bemerkenswerten Moment. Zwar scheint ihr Sound auf den ersten Blick etwas monoton, doch der Groove, den die Band entfaltet, entwickelt einen unwiderstehlichen Sog. Ohnehin eine Bank sind Blind Butcher, das weiß man spätestens, seit das Duo aus Luzern im vergangenen Jahr auf der Mini-Bühne eine Discokugel in die Luft gesprengt hat. Mit abgefahrenem Electrotrash-Postpunk-Krautrock-Discofunk oder wie immer man das auch nennen will, reißen Christian Aregger und Roland Bucher auch die Hauptbühne mit Ansage ab, da muss man sich einmal kurz schütteln, als das Set vorbei ist, und sich die Augen reiben, weil das Papagei-eske Bühnenoutfit ganz schön geblendet hat in den Augen. Starke Nummer, das.

Den erwarteten Abriss liefern die Franzosen von Lysistrata; es ist, als wäre das Gewitter vom Vorabend unter den Kronleuchter auf die Bühne umgezogen. Ohrenbetäubend laut und unvergleichlich mitreißend ist die Band definitiv eines der Highlights des Wochenendes. Wie konträr dazu wirkt im Anschluss Black Sea Dahu: Wie Janine Cathrein und ihre Band hier wunderbar seelenvolle, schwerst emotional aufgeladene Prunkstücke von Folk-Songs vor ihrem Publikum drapieren, ist wunderbar anzuschauen und -hören, ein wunderbares Konzert, dass uns andächtig und verträumt zurücklässt.

Money For Rope aus dem australischen Melbourne tun das, was man von ihnen erwartet und kreieren ein Ungeheuer aus Rock’n’Roll, Soul und wahnsinnigem Groove. Dass das eines der besten Konzerte des Wochenendes werden würde, ist tatsächlich wenig überraschend, denn live ist die Band die pure Wucht, das weiß man als regelmäßiger OBS-Besucher schon von ihrem Auftritt vor vier Jahren, und umso größer ist die Wiedersehensfreude. Gleiches gilt auch für die Show von Christian Kjellvander, bei ihm ist es allerdings schon ganze zehn Jahre her, seit er das Orange Blossom Special besucht hat. Wunderbar düstere, getragene Folk- und Americana-Kleinodien mit großer Brillanz vorgetragen, herrlich tief und auf beeindruckende Weise gleichzeitig bedrückend und berückend - ein wunderbares Konzert, bei dem es allenfalls am nicht immer pointiert abgemischten Sound etwas zu beanstanden gibt.

The Holy aus Finnland beschließen den Abend mit einer grandiosen Mixtur aus Postpunk, Indierock und exhaltierten Ausbrüchen mit großer Geste und wunderbar melancholisch-getragener Stimme; ein Sound, der jedem Vergleich mit Ansage aus dem Weg geht und eine irrsinnige Kraft entfaltet. Wären da nicht die nordisch-unterkühlten Einwürfe ihres Sängers gewesen, denen es so gar nicht gelingt, das kleinste bißchen Draht zum Publikum aufzubauen, das merkbar zwischen Distanziertheit und Begeisterung hin und her mäandert, es hätte ein noch fulminanterer Samstagsabschluss sein können, als es das auch so schon war.

Der umtriebigste Musiker des Wochenendes heißt Jörkk Mechenbier, und das mag nicht allen gefallen. Ein guter Typ ist er, das muss man ihm lassen, und ein umtriebiger noch dazu: Herr Mechenbier macht an diesem Wochenende einfach mal nonchalant das Triple voll. Am Samstag spielte er mit seinem neuesten Projekt Trixsi auf der Mini-Bühne, zwischendurch besuchte er mit Schreng Schreng & La La überraschend den Zeltplatz und am Sonntagmorgen steht er zusammen mit seiner „Hauptband“ Love A als Surprise Act unterm Kronleuchter. Die einen feiern das sehr, nicht zuletzt weil diese schneidenden Punk-Songs schon vor einigen Jahren ganz vorzüglich im Garten funktionieren, den anderen ist das insgesamt ein wenig zu viel Mechenbier-Präsenz (Euresorgen, jr.!). Ich persönlich muss einmal mehr feststellen, dass es musikalisch einfach nicht meine Tasse Tee ist: Ich freue mich mit allen, die sich freuen und ziehe mich vornehm aus dem Geschehen zurück.

Es folgt ein grandioser Auftritt der Kanadier von Gunner & Smith, die mit grandios düsterem Psychedelic-Dark-Country das dunkle Drohen am Horizont heraufbeschwören, faszinierend und intensiv; dann Coogans Bluff, spektakulär und rasend vor Spielfreude, Hardrock trifft famose Bläsersätze, dazu eine Stimme, die in Whisky und Schmutz getränkt ist: Ganz stark ist das. Steiner & Madlaina setzen ihren Siegeszug über die Bühnen dieses Landes fort, poetisch und theatralisch, gleichzeitig aber auch unendlich ehrlich und wahrhaftig. Und The Sheepdogs sind schließlich die perfekte Band, um gemütlich in der Chillout-Ecke für einen Moment die Augen zu schließen, die Sonne zu genießen und das Festival um sich herum einfach mal geschehen zu lassen. Mit ihrem Mix aus Americana, trockenem Wüstenrock und Elementen aus Folk und Country sind sie der perfekte Soundtrack für diesen späten Sonntagnachmittag. Tom Allan & The Strangest hätten gerne auch auf der Hauptbühne spielen dürfen; ihr Entwurf von Indierock klingt gleichzeitig nach dreckigen Clubs und weiten Reisen, und sie sind wieder eine dieser Bands, die fassungslos vor den jubelnden Menschen steht und nicht so recht glauben kann, wie nett man zu ihnen ist - aber es geschieht zurecht, es sind zwei tolle Minibühnen-Konzerte, und Rembert Stiewe muss von der Hauptbühne aus mehrfach mahnen, dass die „Zugabe“-Rufe verstummen, weil es ja schließlich weiter gehen muss.

Was wiederum gut so ist, denn dann ist es Zeit für einen der größten Momente dieses Wochenendes: Cash Savage & The Last Drinks sorgen für offene Münder und eine Atmosphäre von höchster Konzentration und Dringlichkeit. Mit einem zutiefst wutgetriebenen, von Enttäuschung und Konsterniertheit gezeichnetem Organ singt Frontfrau Cash Stevens tobende Hymnen, die mit Resignation nicht das geringste zu tun haben, sondern aufrühren und tief beeindrucken. Was ist das für ein Sound: Da stecken Folk-Harmonien drin, aber auch dunkelschwarzer Indierock, ein wenig Postpunk und die übermannende Traurigkeit von Bright Eyes und Arcade Fire in der ganz frühen Phase. Dieser Band kann sich gerade niemand entziehen, das lässt einen gleichzeitig völlig fertig und erfüllt zurück. Eine dieser Lieblingsbands, wie man sie mitnimmt nach einem solchen Orange Blossom Special-Wochenende. Auf so etwas kann nur eine Hausnummer wie Die Nerven folgen: Brachial und mal wieder extrem anstrengend, aber eben auch unvergleichlich zwingend und beißend brennt diese Band alles ab, was sich ihr in den Weg stellt: Lakonisch und unnahbar, aber unfassbar tight und on point. Das kann nicht jeder feiern, und das ist völlig in Ordnung so, aber wer sich damit auseinander setzt, macht alles richtig.

Und dann, ja dann ist es leider schon Zeit für den ganz großen krönenden Abschluss, die mächtigen Garda aus Dresden, die im vergangenen Jahr mit „Odds“ ihr Opus Magnum veröffentlicht haben und nun plötzlich, erweitert um das Ensemble Tanderas, zu zehnt auf der Bühne stehen bzw. sitzen und mit ungeheurer Grandezza, unwiderstehlicher Energie und berückender Traurigkeit die perfekte Band sind, um dieses Festivalwochenende auszuleuten. Diese Musik findet die Mitte zwischen Get Well Soon und Bright Eyes (schon wieder!), wird orchestral ausgekleidet ohne jemals kammermusikhaft zu wirken, erstrahlt in cineastischer Brillanz und begeistert grenzenlos. Ein fulminantes, ein ganz und gar wundervolles Konzert; es ist, als habe man vergessen, wo man sich gerade befindet, als die Band plötzlich aufhört zu spielen; ein überwältigendes Gefühl.

Aber hey, wir schauen uns um, wir sind immer noch im Glitterhouse-Garten, und Rembert Stiewe und Simon Baranowski stehen auf der Bühne und wissen auch nicht recht, ob sie nun wirklich SAGEN sollen, dass das Orange Blossom Special schon wieder vorbei ist, denn das fühlt sich so falsch an; dann werden wir wieder selbst zu den Leuten mit Sorgen, jr., sobald die Akkus, die wir an diesen drei Tagen sukzessive aufgeladen haben, in denen wir Sonne und Sound und Liebe gespeichert haben und uns wieder mal so klar war, dass diese Zeit hier so richtig ist, wieder zur Neige gehen. Aber es hilft alles nichts, der kürzeste Drei-Tages-Witz der OBS-Geschichte wird zu Ende erzählt, es werden Orden an die zum Teil erstmals in großer Verantwortung aktiven Crewmitglieder vergeben (Congrats!) und es wird sich geherzt und gedrückt, aber dann muss er es sagen, der Rembert: „Passt auf euch auf, macht’s gut“, und dann spricht Frank Giering wieder diese Worte, die so wahrhaftig sind und die jeder hier in seinem Herzen tätowiert trägt: „Weißt du, was ich manchmal denke? Es müsste immer Musik da sein, bei allem was du machst. Und wenn es so richtig scheiße ist, dann ist wenigstens noch die Musik da. Und an der Stelle wo - wo es am allerschönsten ist, da müsste die Platte springen und du hörst immer nur diesen einen Moment“.

Und dann ist es aus für dieses Jahr. Kurz stehen die Menschen noch vor der Bühne und blicken sich ungläubig an, dann verläuft es sich, einige sitzen noch ein wenig auf dem Rasen zusammen, andere umarmen sich und verabschieden sich, auf’s nächste Jahr, passt auf euch auf, macht’s gut; der Großteil verliert sich in der Nacht und wir blicken für einen Moment wehmütig vom Balkon auf dieses so formvollendete Bild einer gerade beendeten großartigen Zeit, die wieder einmal den Kronleuchter in uns allen zum Strahlen gebracht hat, auf die wir uns so lange gefreut haben - genau ein Jahr - und wir seufzen und sind müde, aber die Akkus sind voll, und sie werden uns eine ganze Zeit lang daran erinnern, was wir erlebt haben an diesem Wochenende. Dass sich einmal mehr Haltung, Liebe und fulminante Wertschätzung in Verbindung mit tollen Menschen und guter Musik zu einem großen Ganzen verbunden haben und wir uns versichert haben, dass wir wissen, warum wir genau hier so gerne sind. Wir waren gerührt, vom Sandmann am Ausgang in die Nacht verabschiedet zu werden - wo bitte gibt es so etwas schon? Es war grandios zu sehen, wie wieder einmal jeder Handschlag rund um dieses wunderbare Festival so gerne getan wird, wie Schlafmangel und Rastlosigkeit von wundervollen Freundschaften aufgefangen werden, wie Commitments für die gute Sache erneuert und erweitert wurden im Wissen, wir fühlen hier alle das gleiche. Man könnte heulen, weil alles so gut ist.

Die gute Nachricht, wenn nicht die beste, ist der Fortbestand dieser Insel auf Jahre hinaus; das Wissen, dass wir uns wiedersehen, und wieder und wieder, und die Erleichterung darüber war dieses Wochenende  allgegenwärtig. Es ist so wunderbar, dass es so gute Ideen wie das Orange Blossom Special gibt. Menschen, die sich nicht kannten, sind hier Freunde geworden und bleiben es, und die, die sich schon kennen, fühlen sich einander wieder ein Stück mehr verbunden. Nichts ist schöner als das, und nichts ist ehrlicher.

Und 2020 werden wir alle zusammen diese wunderbare Geschichte weiter erzählen, unter welchem Motto und mit welchem Wappentier auch immer. Ich freue mich drauf.



Text: Kristof Beuthner

Fotos: Christina Schoh und Kristof Beuthner