Rezensionen 24.08.2019

Carlos Cipa - Retronyms [Warner Classics]

Ein Retronym steht für die neue Bezeichnung für etwas Althergebrachtes. Die Umcodierung klassizistischer Klangwelten ist Carlos Cipa auf seinem dritten Album nun wirklich sehr faszinierend gelungen: Ein unfassbar detailreicher Soundkosmos, der nachhaltig berührt und beeindruckt.

Es ist für mich immer wieder erhebend, einem zeitgenössischen Komponisten beim Weiterentwickeln seines Klangspektrums beizuwohnen. Carlos Cipa gehört dabei schon länger zu meinen wichtigsten Wegbegleitern, zwei ganz wunderbare Piano-Alben beim Essener Nischensound-Label Denovali waren der Grund dafür, „The Monarch & The Viceroy“ von 2012 und „All Your Life You Walk“ von 2014. Im Grunde klassische Klavierwerke, was das Instrumentarium anbelangte, geprägt aber auch von einem sehr besonderen Gefühl für Melodien und Arrangements, die eine Nähe zum Pop und zur einfühlsamen Eingängigkeit gar nicht verleugneten - warum auch? Dass Carlos Cipa in seinem Schaffen nicht im Purismus stehen bleiben würde, hatte er zuletzt schon auf der EP „Relive“ gemeinsam mit Sophia Jani, mehr sogar noch auf der Zusammenarbeit auf „Trow“ mit dem Elektronik-Produzenten Occupanther versprochen, als er sich mehr und mehr dem Experimentalismus und dem Jazz auf der einen und technoiden Soundscapes auf der anderen Seite näherte. Und er hält nun Wort: „Retronyms“, Cipas drittes Album, markiert einen vorläufigen Höhepunkt dieser Reise, ist sein vielseitigstes, spannendes und definitiv reizvollstes Werk bis dato.

Das beginnt schon mit dem Intro namens „Fanfare“, das das Spektrum der Erwartbarkeit des Folgenden mit einem Mitschnitt der Einspielübungen des Posaunisten vom ersten Moment an ad absurdum führt - eine knapp einminütige, scheinbar atonal-avantgardistische Einführung, die in das fast schon wunderbarste Stück auf „Retronyms“, „Senna’s Joy“, mündet, das mit gedämpften Klavierklängen beginnt und ergänzt wird durch Bläser (hier nun keineswegs atonal oder avantgardistisch, sondern  dezent angejazzt), gezupfte Streicher und synthetische Soundflächen, wunderbar wärmend, gleichzeitig zutiefst melancholisch und introspektiv, prachtvoll und sehr innig. „Mame“ wirkt auf seinen knapp zweieinhalb Minuten wie eine akustische Momentaufnahme, ein Experiment; dann „And She Was“, das vorab schon ein wunderschönes Stück war, im Gesamtzusammenhang des Albums aber noch weit mehr Sinn ergibt, weil es mit seinen detailreichen Klavierfiguren die Brücke zwischen dem minimalistischen Ansatz der ersten Alben und dem ausladenderen Klangkonzept von „Retronyms“ bildet. So öffnet das darauf folgende kryptisch betitelte „awbsmi“ wieder eine neue Tür, surreal-verfremdete Streicher untermalen eine düster-nebelverhangene Szenerie, mit der wir aber schon nach gut anderthalb Minuten wieder allein gelassen werden, bevor das wundersam leicht und erlösend klingende „Slide.“ wieder mit Sonnenstrahlen das Setting erhellt, hier hören wir plötzlich eine Gitarre, eingängig, einprägsam und betörend hoffnungsvoll - und dann dieses Finish, die Streicher, die auf einmal einfach da sind und so sehr am Ziel wirken, aber gleichzeitig sind da diese dystopischen Drones, und wir fühlen uns diffus, gar nicht mehr so geborgen. Was wartet, wenn wir diesen Klangwald verlassen? Der „Dark Tree“. Hier tritt Carlos Cipas sehr feingliedriges Klavierspiel in den Dialog mit jazzigen Trompeten, und darunter liegen sphärisch-elegische Soundscapes, surreal und weltfern. Das Finale, „Paon“, ist dann ein improvisatorisches Zusammenspiel zwischen Cipas Klavier und der Trompete von Matthias Lindermayr, quasi eine sowohl klangliche als auch für den Hörer fühlbare Quintessenz des Albums - melancholisch und detailverliebt, hoffnungsvoll und gleichsam introvertiert, kunstvoll und leicht. Und dann ist es vorbei, hinterlässt uns glücklich und bereichert, still innehaltend. Diese Vielfalt muss man erstmal verpacken.

Weil ein Retronym eine neue Bezeichnung von etwas althergebrachtem meint, ist der gesamte Begriff der Neoklassik, in dem sich auch Carlos Cipa im weitesten Sinne bewegt, generell allumfassend darunter einzuordnen, und es ist wahrhaft bereichernd, wie hier Strukturen aufgebrochen, erweitert, neu gedacht werden. Definitv ist dieses Album ein sehr eindrucksvoller Beweis dafür, was mit klassizistischen Ordnungen getan werden kann, wenn der Horizont breiter gemacht wird, wenn Ergänzungen aus zeitgenössischer Musik ein Zugang zu minimalistischen Strukturen geschaffen wird. Eine wunderbare Erdung erhält dieses dritte Album von Carlos Cipa übrigens durch das immer mal wieder hörbare Rauschen; die spürbare Nahbarkeit der Produktion entsteht durch den stetig wiederkehrenden Improvisationscharakter in den acht Stücken, den Fokus auf das Organische. „Retronyms“ ist ein klangliches Wunderwerk, suggestiv, experimentell, zuweilen hörbar dem Moment verschrieben, dann wieder so detailreich, dass die Kreativität in seiner Konzeption förmlich überwältigt. Es ist fraglos der bisherige Höhepunkt im Schaffen von Carlos Cipa - und es sollte ihn dringend endlich in den Kreis der gefragtesten Künstler der sogenannten Contemporary Music befördern.


Text: Kristof Beuthner